Verdummt nochmal! - Der unsichtbare Lehrplan oder Was Kinder in der Schule wirklich lernen

Freitag, den 08. November 2013, Leseprobe von buchhandel.de
 
Ich bin hier, um mit Ihnen über Ideen zu sprechen, aber ich denke, es ist
ganz sinnvoll, wenn ich zuerst etwas über mich selbst erzähle, so dass ich
ein Mensch wie Sie werde, statt ein weiterer Klugscheißer wie aus dem
Fernsehen. Ich weiß, dass ich mich, wenn ich den Kopf des Nachrichtensprechers
sehe, manchmal frage: »Wer bist du? Und warum erzählst du
mir diese Sachen?«

Also möchte ich Ihnen ein bisschen von dem Boden erzählen, auf
dem diese Ideen gewachsen sind.

Ich habe in den vergangenen dreißig Jahren als Lehrer in New York
City gearbeitet, und während eines Teils dieser Zeit Kinder aus der Elite
der Manhattan UpperWest Side unterrichtet, die zwischen dem Lincoln-
Center, wo die Oper gelegen ist, und der Columbia University liegt. In
den letzten Jahren habe ich überwiegend Kinder aus Harlem und Spanisch-
Harlem unterrichtet, deren Leben von den gefährlichen Unterströmungen
der zerfallenden Industriestadt geformt wird. Ich habe in diesen
Jahrzehnten an sechs verschiedenen Schulen unterrichtet. Meine jetzige
Schule liegt im Schatten der St.-Johns-Kathedrale, dem größten gotischen
Gebäude der Vereinigten Staaten und nicht weit vom berühmten Museum
of Natural History und demMetropolitanMuseum of Art. Drei Häuserblocks
von meiner Schule entfernt wurde vor ein paar Jahren die »Central-Park-
Joggerin« (wie die Medienmythologie sie nennt) vergewaltigt und brutal
zusammengeschlagen – sieben der neun Angreifer gingen in meinem
Bezirk zur Schule.

Meine eigene Sichtweise allerdings wurde sehr weit weg von New
York City geformt, in der Industriestadt Monongahela in Pennsylvania,
sechzig Kilometer südöstlich von Pittsburgh. Damals war Monongahela
geprägt von Stahlwerken und Kohleminen, von Raddampfern auf dem
Fluss, die das smaragdgrüne Wasser zu einem schrillen Orange aufrührten,
und von Respekt für harte Arbeit und Familienleben. Monongahela
war ein Platz ohne große Klassenunterschiede, da jeder mehr oder weniger
arm war, obwohl ich glaube, dass sich nur sehr wenige dessen bewusst
waren. Es war ein Ort, wo Unabhängigkeit, Härte und Eigenständigkeit
anerkannt wurden, ein Ort, wo der Stolz auf ethnische und regionale Kultur
eine große Rolle spielte. Es war insgesamt ein wunderbarer Platz um
aufzuwachsen, auch für arme Leute. DieMenschen sprachen miteinander
und nahmen Anteil an den Angelegenheiten der anderen, anstatt an den
abstrakten Angelegenheiten »der Welt«. Tatsächlich bedeutete die große
weite Welt kaum je mehr als Pittsburgh, eine wundervoll dunkle Stahlstadt,
die ein- oder zweimal jährlich zu besuchen sich lohnte. Niemand in
meiner Erinnerung fühlte sich an Monongahela gefesselt, ich hörte auch
niemanden jammern, er würde irgendetwas Wichtiges verpassen, was
eventuell anderswo passierte.

Mein Großvater hatte in unserer Stadt die Druckerei inne und gab
eine Zeit lang auch die Zeitung The Daily Republican heraus – ein Name,
der einige Aufmerksamkeit auf sich zog, denn die Stadt war eine Hochburg
der Demokraten. Von meinem Großvater und seiner unabhängigen
deutschen Art lernte ich Vieles, was mir, wenn ich in einer Zeit wie heute
aufgewachsen wäre, wo alte Leute in ein Heim gesteckt oder außer Sichtweite
gehalten werden, vorenthalten geblieben wäre.

Das Leben inManhattan war für mich viele Jahre lang ein Leben wie
auf demMond. Obwohl ich seit fünfunddreißig Jahren hier bin, sind mein
Herz und meine Gewohnheiten immer noch Monongahela verhaftet.
Trotzdem hat der Schock überManhattans ganz andersartige Gesellschaft
mit ihren vollkommen anderen Werten meinen Sinn für Unterschiede
geschärft und mich nicht nur zu einem Anthropologen, sondern auch zu
einem Lehrer gemacht.Während der letzten dreißig Jahre habe ich meine
Klasse als Labor genutzt, wo ich ein weiteres Spektrum dessen erkunden
konnte, was für Menschen möglich ist – den ganzen Katalog von Hoffnungen
und Ängsten – und auch als einen Ort, wo ich studieren konnte,
was menschliche Kraft freisetzt und was sie behindert.

Während dieser Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass
Genie eine überaus häufige menschliche Eigenschaft ist, wahrscheinlich
den meisten von uns angeboren. Ich wollte diese Feststellung zunächst
nicht anerkennen, denn meine eigene Ausbildung an zwei Eliteuniversitäten
hatte mich gelehrt, dass Intelligenz und Begabung sich ökonomisch
über eine Glockenkurve verteilten und dass das menschliche Schicksal
aufgrund dieser mathematischen, scheinbar unverrückbaren wissenschaftlichen
Tatsachen genauso streng festgelegt war, wie schon John Calvin behauptete.
Das Problem war nur, dass die Kinder, von denen ich es am wenigsten
erwartete, mir in zufälligen Augenblicken zu häufig Kerneigenschaften
menschlicher Exzellenz bewiesen – Einsicht,Weisheit, Gerechtigkeit,
Erfindungsgeist, Mut, Originalität –, was mich verwirrte. Sie taten dies
nicht oft genug, um mir das Unterrichten zu erleichtern, aber sie taten es
doch so oft, dass ich mich zögernd zu fragen begann, ob es möglich war,
dass der Aufenthalt in der Schule selbst es war, der ihre Möglichkeiten
verringerte. War es denkbar, dass ich nicht angestellt war, um das Potential
von Kindern zu vergrößern, sondern zu vermindern? Das schien auf
den ersten Blick verrückt, aber allmählich begann ich zu erkennen, dass
die Pausenglocken und die Beschränkungen, die unsinnigen Strafen, die
Aufteilung nach Jahrgängen, die fehlende Privatsphäre, die beständige
Überwachung und all das andere, was landesweit zum Lehrplan gehört,
exakt so entworfen waren, als ob es jemand darauf angelegt hätte, Kinder
davon abzuhalten, denken und handeln zu lernen, und um sie zu Sucht
und Mustern der Abhängigkeit zu drängen.

Stück für Stück entwickelte ich Guerillataktiken, um möglichst vielen
der von mir unterrichteten Kinder das Ausgangsmaterial zur Verfügung zu
stellen, welches dieMenschen schon immer benutzt haben, um sich selbst
zu bilden: Privatsphäre,Wahlfreiheit, Freiheit von Überwachung und ein
so breites Spektrum von Situationen und menschlichen Zusammenkünften,
wie meine begrenzten Kräfte und Ressourcen es ermöglichen konnten.
Ich versuchte ganz einfach, sie in Positionen zu manövrieren, in denen
sie eine Chance hatten, ihre eigenen Lehrer zu werden und selbst den
Hauptanteil an ihrer Bildung zu übernehmen.

In theoretischen, metaphorischen Begriffen begann ich die folgende
Idee zu erkunden: Dass Lehren nicht derMalkunst gleicht, wo durch Hinzufügung
von Material auf eine Oberfläche ein Bild künstlich hergestellt
wird, sondern mehr der Kunst der Bildhauerei, wo Wegnahme von Material
einem bereits im Stein eingeschlossenen Bild ermöglicht zu erscheinen.
Das ist ein entscheidender Unterschied.

Mit anderen Worten: Ich ließ die Vorstellung fallen, dass ich ein
Experte war, dessen Job darin bestand, die kleinen Köpfe mit meinem
Wissen zu füllen, und begann stattdessen zu erkunden, wie ich die Hindernisse
beseitigen konnte, die das in den Kindern vorhandene Genie
darin hinderten, sich zu entfalten. Ich fühlte mich nicht länger wohl dabei,
meine Arbeit so zu definieren, dass ich im KlassenzimmerWeisheit in ein
widerspenstiges Publikum träufelte. Obwohl ich bis heute weiter diese
sinnlosen Tests schreiben lasse, weil das nun mal im Wesen des institutionalisierten
Lernens liegt, habe ich – wo immer möglich – mit der Unterrichtstradition
gebrochen und die Kinder auf ihre eigenständigenWege zu
ihren eigenen privaten Wahrheiten geschickt.

Die Soziologie von staatlichen Monopolschulen hat sich in einer
Weise entwickelt, dass ein Vorgehen wie meines die gesamte Institution
sabotieren würde, wenn es sich ausbreitete. Solange dies nicht geschieht,
ist ein einzelner Lehrer, der eine ähnliche Entdeckung macht wie ich,
schlimmstenfalls eine Störung für die Befehlskette (die automatische
Abwehrmechanismen entwickelt hat, um solche Bazillen zu isolieren und
sie dann zu neutralisieren oder zu zerstören). Aber wenn die Idee einmal
freigesetzt würde, könnte sie die zentralen Annahmen infiltrieren, welche
die institutionalisierte Schule am Leben erhalten, zum Beispiel die falsche
Annahme, dass es schwierig ist, anderen Wesen etwas beizubringen oder
dass Kinder nicht lernen wollen und vieles andere. Tatsächlich wird die
gesamte Stabilität unsererWirtschaftsform von jeder Form der Erziehung
bedroht, die an der Beschaffenheit der menschlichen Produkte, die heute
die Schule verlassen, etwas verändert: Das ökonomische System, unter
dem Schulkinder heute erwarten zu leben und zu dienen, würde keine
Generation junger Leute überleben, die zum Beispiel kritisches Denken
gelernt hätten.

Der Erfolg meiner Vorgehensweise setzt ein großes automatisches
Vertrauen voraus, ein grundlegendes Vertrauen, das nicht vom Wohlverhalten
abhängt. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, ihre eigenen
Fehler zu machen und es noch mal zu probieren, oder sie werden
niemalsMeister ihrer Selbst werden, obwohl sie kompetent erscheinen können,
wo sie sich in Wirklichkeit nur das Verhalten von jemand anderem
gemerkt oder es nachgeahmt haben. Was meine Vorgehensweise erfolgreich
macht, bedeutet auch, viele bequeme Annahmen darüber, was zu
lernen sich lohnt und woraus ein gutes Leben geformt ist, in Frage zu
stellen.

Während ich mit den Hindernissen gerungen habe, die zwischen dem
Kind und seiner Bildung stehen, bin ich im Laufe der Jahre zu der Überzeugung
gelangt, dass die staatlichen Monopolschulen von ihrer Struktur
her nicht reformierbar sind.Wenn ihre zentralen Mythen bloßgelegt und
abgeschafft werden, können sie nicht funktionieren. Inzwischen habe ich
verstanden, dass ich, unabhängig von meiner eigenen Einschätzung meiner
Aufgabe als Lehrer, in Wirklichkeit zum größten Teil einem unsichtbaren
Lehrplan folge, der die Mythen der Institution Schule und unseres
Wirtschaftsystems, das auf einem Kastenwesen basiert, verstärkt. Als ich
darüber nachdachte, was ich Ihnen sagen könnte, um diese meine Erfahrung
fruchtbar werden zu lassen, wurde mir deutlich, dass ich Ihnen am
besten erzähle, was an dem, was ich tue, falsch ist, anstatt Ihnen zu berichten,
was an meinem Tun richtig ist. Denn das Richtige ist einfach zu verstehen:
Ich stehe den Kindern nicht im Weg, ich gebe ihnen Raum und
Zeit und Respekt. Das Falsche an dem, was ich tue, ist allerdings merkwürdig,
komplex und erschreckend. Ich möchte es Ihnen aufzeigen.

Kapitel 1
DIE SIEBEN LEKTIONEN DES LEHRERS
Diese Rede hielt der Autor 1991 anlässlich seiner Ernennung zum »»Lehrer des
Jahres im Bundesstaat New York«.


Nennen Sie mich bitte Mr. Gatto. Vor dreißig Jahren, als ich gerade nichts
Besseres mit mir anzufangen wusste, versuchte ich mich im Unterrichten.
Mein Abschluss erlaubt mir, Englisch zu unterrichten, aber das tue ich
gar nicht. Ich unterrichte nicht Englisch; ich unterrichte Schule – und ich
gewinne Preise damit.

Unterrichten bedeutet an unterschiedlichen Orten unterschiedliche
Dinge, aber sieben Lektionen werden universal vermittelt, von den Slums
in Harlem bis zu den Villenvierteln in Hollywood. Diese sieben Lektionen
bilden einen landesweiten Lehrplan, für den Sie einen höheren Preis
bezahlen, als Sie es sich vorstellen können, also können Sie genauso gut
auch gleich erfahren, worin dieser Preis besteht. Es steht Ihnen natürlich
völlig frei, wie Sie meine Ausführungen auffassen wollen, aber glauben
Sie mir, wenn ich sage, dass ich mit meiner Darstellung keinerlei Ironie
beabsichtige. Das sind die Lektionen, die ich unterrichte. Das sind die
Lektionen, für deren Vermittlung Sie mich bezahlen. Machen Sie daraus,
was Sie wollen.

1. Verwirrung
Gestern schrieb mir dies eine Dame namens Kathy aus Dobois, Indiana:
Welche großen Ideen sind für kleine Kinder wichtig? Nun, die größte Idee, die sie,
wie ich glaube, brauchen, ist, dass Lernen nicht beliebig ist – dass es ein System
darin gibt und dass es nicht einfach nur auf sie herabregnet, während sie es hilflos
aufnehmen. Das ist die Aufgabe: zu verstehen, einen Zusammenhang herzustellen.
Kathy liegt falsch. Die erste Lektion, die ich unterrichte, ist Verwirrung. Alles,
was ich lehre, ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ich unterrichte die
Beziehungslosigkeit von allem. Ich unterrichte Verbindungslosigkeiten.
Ich unterrichte zu viel: die Umlaufbahnen der Planeten, das Gesetz der
großen Zahlen, Sklaverei, Adjektive, architektonisches Zeichnen, Tanzen,
Sport, Chorsingen, Versammlungen, Überraschungsgäste, Feueralarm,
Computersprachen, Elternabende, Fortbildungstage, Begabtenförderung,
Führungen mit Fremden, die meine Schüler wahrscheinlich nie mehr wiedersehen,
standardisierte Tests, Jahrgangstrennung, die es so in der äußeren
Welt nirgends gibt – doch was hat irgend eines dieser Dinge mit den
anderen zu tun?

Selbst in den besten Schulen erweist die nähere Untersuchung des
Lehrplans und seiner Abfolgen einen Mangel an Zusammenhang, eine
Vielzahl innererWidersprüche. Glücklicherweise haben die Kinder keine
Worte für die Panik und die Wut, die sie fühlen, wenn die natürliche Ordnung
und Abfolge beständig verletzt und ihnen als qualitativ hochwertige Bildung
hingeworfen wird. Die Logik des Schulgeistes besagt, dass es besser
ist, die Schule mit einemWerkzeugkasten oberflächlicher Begriffe aus den
BereichenWirtschaft, Soziologie, Naturwissenschaft und so weiter zu verlassen,
als mit einer einzigen echten Begeisterung. Aber eine wirklich qualitativ
hochwertige Bildung bedeutet, etwas in der Tiefe zu erforschen.
Verwirrung wird über die Kinder gebracht, zu viele fremde Erwachsene,
die alle – jeder für sich – nur mit einem Minimum an Beziehung untereinander
arbeiten und meist eine Sachkenntnis vortäuschen, die sie nicht
besitzen.

Gesunde Menschen suchen Sinn statt zusammenhangloser Fakten,
und echte Bildung ist ein Set von Codes, um Rohdaten in sinnvolle Zusam-
menhänge zu verwandeln. Hinter dem Flickenteppich eines Stundenplanes
und der schulischen Besessenheit von Fakten und Theorien liegt
die uralte menschliche Sehnsucht nach Sinn gut versteckt. Das ist in der
Grundschule, wo die Hierarchie der Schulerfahrung noch mehr Sinn zu
ergeben scheint, schwerer zu erkennen, weil die gutmütige, einfache Beziehung
zwischen »Lasst uns dies tun« und »Lasst uns das tun« einfach unter
die Annahme gestellt wird, dass es schon etwas bedeutet, und weil die
Klientel noch nicht bewusst unterscheiden kann, wie wenig Substanz hinter
all dem Spielen und So-tun-als-ob steckt.

Denken Sie an die großen Abläufe in der Natur – Laufen und Sprechen
lernen, die Wanderung des Lichtes von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang;
die tradierten Abläufe auf einem Bauernhof, in einer Schmiede
oder beim Schuhmacher, oder die Vorbereitung eines Erntedankfestes.
Alle Teile stehen in vollkommener Harmonie zueinander, jede Handlung
hat ihre Rechtfertigung in sich selbst und beleuchtet Vergangenheit und
Zukunft gleichermaßen. Schulinhalte sind nicht so, nicht innerhalb einer
einzelnen Unterrichtsstunde und schon gar nicht im Gesamtmenü des täglichen
Stundenplans. Schulinhalte sind verrückt. Es gibt für keine von
ihnen irgendeinen besonderen Grund, nichts, was näherer Prüfung standhält.
Nur wenige Lehrer würden es wagen, die Denkwerkzeuge zu unterrichten,
mit denen die Dogmen einer Schule oder eines Lehrers kritisiert
werden könnten, denn alles muss akzeptiert werden. Schulstoff wird, wenn
er überhaupt gelernt werden kann, so gelernt, wie Kinder die Zehn
Gebote lernen oder den Katechismus.

Ich unterrichte die Zusammenhanglosigkeit von allem, eine unendliche
Fragmentierung, das Gegenteil von Zusammenhang.Was ich tue, hat
mehr Ähnlichkeit mit der Zusammenstellung eines Fernsehprogramms
als mit der Errichtung einer Ordnungsstruktur. In einer Welt, wo die
Familie nur ein Schattendasein fristet – weil beide Eltern berufstätig sind
oder wegen ständiger berufsbedingter Ortswechsel, weil die Eltern zu viel
Ehrgeiz haben oder weil aus anderen Gründen alle zu verwirrt sind, um
ein echtes Familienleben aufrechtzuerhalten –, lehre ich Schüler, Verwirrung
als ihr Schicksal zu akzeptieren. Das ist die erste Lektion, die ich
unterrichte.

2. Gesellschaftliche Schichtung
Das zweite Fach, das ich unterrichte, ist die unentrinnbare Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Schicht. Ich lehre, dass die Schüler auf dem ihnen zugewiesenen
Schulniveau bleiben müssen. Ich weiß nicht, wer entscheidet,
dass meine Kinder dort hingehören, aber das geht mich auch nichts an.
Die Kinder sind eingeteilt, so dass, wenn irgendeines verloren geht, es auf
das richtige Schulniveau zurückgeschickt werden kann. Im Laufe der
Jahre hat die Differenziertheit, mit der Kinder von den Schulen eingeteilt
werden, dramatisch zugenommen, so dass sie als Menschen unter dem
Gewicht der ihnen zugeordneten Kategorien kaum noch zu erkennen
sind. Dieses Schubladenprinzip ist ein großes und sehr profitables Unternehmen,
obwohl nicht deutlich wird, was mit dieser Strategie bewirkt werden
soll. Ich weiß nicht einmal, warum Eltern kampflos zulassen, dass
ihren Kindern dies angetan wird.

Jedenfalls geht es mich nichts an.Meine Aufgabe besteht darin, dafür
zu sorgen, dass es den Kindern gefällt, mit Kindern gleichen Niveaus
zusammengesperrt zu werden oder dass sie es zumindest widerspruchslos
erdulden. Wenn ich meine Sache gut mache, können die Kinder sich
nicht einmal vorstellen, anderswo zu sein, denn ich habe ihnen beigebracht,
die höheren Lernniveaus zu beneiden und ihnen mit Ehrfurcht
zu begegnen, auf die darunter liegenden Niveaus dagegen mit Verachtung
herabzublicken. Durch diese wirksame Disziplinierungsmethode bringt
sich die Klasse überwiegend selbst in eine gute Marschordnung. Das ist
die eigentliche Lektion jedes künstlich auferlegtenWettbewerbs, und auch
der Schule: Du lernst, wo dein Platz ist.

Trotz des schulischen Masterplans, der davon ausgeht, dass neunundneunzig
Prozent der Kinder auf dem ihnen zugewiesenen Schulniveau
bleiben, unternehme ich sichtbare Anstrengungen, um die Testergebnisse
der Kinder zu verbessern und weise auf die mögliche
Belohnung eines Wechsels auf ein besseres Schulniveau hin. Ich lasse
häufig durchblicken, dass der Tag kommen wird, wo ein Arbeitgeber sie
auf der Grundlage von Testergebnissen und Zeugnissen einstellen wird,
obwohl ich persönlich die Erfahrung gemacht habe, dass Arbeitgeber
sich darum wenig scheren. Ich lüge nicht geradewegs, aber ich habe fest-
gestellt, dassWahrheit und Unterrichten grundsätzlich unvereinbar sind,
wie Sokrates es bereits vor zweieinhalbtausend Jahren gesagt hat. Die
Lektion der verschiedenen Schulniveaus macht klar, dass jeder den ihm
angemessenen Platz in der Pyramide hat und dass es keinen Ausweg aus
deiner dir zugewiesenen Stufe gibt, außer durch den Zensurenzauber.
Wenn du den nicht beherrschst, musst du bleiben, wohin du gesetzt
wurdest.

3. Gleichgültigkeit
Das dritte Fach, das ich unterrichte, ist Gleichgültigkeit. Ich lehre Kinder, sich
nicht allzu sehr für irgendetwas zu begeistern, selbst wenn sie den
Anschein erwecken sollten. Ich tue das auf sehr raffinierte Weise, indem
ich fordere, dass sie sich in meinen Unterrichtsstunden bedingungslos
engagieren, vor Begeisterung von den Plätzen springen und eifrig miteinander
um meine Gunst konkurrieren. Es ist rührend, wenn sie das tun,
und es beeindruckt jeden, selbst mich.Wenn ich in Höchstform bin, plane
ich die Unterrichtsstunden sehr sorgfältig, um diese Begeisterungsshow
hervorzubringen. Aber wenn die Pausenglocke läutet, bestehe ich darauf,
dass sie alles, was wir getan haben, augenblicklich stehen und liegen lassen
und schnell zur nächsten Arbeitsstation weitergehen. Sie müssen sich
wie ein Lichtschalter an- und ausschalten lassen. Nichts Wichtiges wird
in meiner oder irgendeiner anderen mir bekannten Unterrichtsstunde
jemals zu Ende geführt. Die Schüler haben nie eine vollständige Erfahrung,
außer der eines erfüllten Lehrplanes.

Die eigentliche Lektion der Pausenglocke ist, dass es keine Arbeit
gibt, die es wert ist, zu Ende geführt zu werden. Warum also sollte man
sich für irgendetwas engagieren? Jahrelange Pausenglocken werden alle –
mit Ausnahme der Stärksten – auf eine Welt vorbereiten, die keine wichtige
Arbeit mehr zu bieten hat. Pausenglocken sind die geheime Zeitlogik
der Schule, und diese Logik ist unausweichlich. Pausenglocken zerstören
sowohl Vergangenheit als auch Zukunft und gleichen jede Zeitspanne
allen anderen an, so wie die Abstraktion einer Landkarte jeden lebendigen
Berg und Fluss gleichmacht, obwohl sie es inWirklichkeit nicht sind. Pausenglocken
infizieren jedes Vorhaben mit Gleichgültigkeit.

4. Emotionale Abhängigkeit
Das vierte Fach, das ich unterrichte, ist emotionale Abhängigkeit. Mit Fleißbienchen
und Smileys, mit Lächeln und Stirnrunzeln, Auszeichnungen,
Ehrungen und Strafen bringe ich den Kindern bei, ihren Willen der vorherbestimmten
Befehlskette zu unterwerfen. Rechte können von jeder
Autorität ohne Berufungsmöglichkeit gewährt oder verweigert werden,
denn auch wenn die Autoritäten behaupten, es wäre anders: Rechte existieren
in einer Schule nicht – nicht einmal das Recht der freien Rede, wie
eine Entscheidung des höchsten Gerichtshofes der USA bestätigt hat. Als
Lehrer greife ich in viele persönliche Entscheidungen ein, ich stelle eine
Bewilligung für jene aus, die mir legitim erscheinen und setze für ein Verhalten,
das meine Herrschaft bedroht, eine Bestrafung in Gang. Unter
den Kindern und Jugendlichen versucht sich immer wieder Individualität
breit zu machen, daher erfolgen meine Urteile hart und schnell. Individualität
steht im Widerspruch zur Klassentheorie, sie ist eine Bedrohung
für alle Klassifizierungssysteme.

Und dies sind häufige Arten, wie Individualität sichtbar wird: Kinder
stehlen sich für einen ungestörten Augenblick auf der Toilette davon,
unter der Vorgabe, sie müssten mal, oder sie verschwinden zu einem privaten
Moment in die Pausenhalle unter dem Vorwand, sie hätten Durst
und wollten etwas trinken. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich
erlaube ihnen, mich zu »täuschen«, denn dies konditioniert sie darauf,
sich von meiner Gunst abhängig zu machen. Manchmal offenbart sich
mir der freie Wille direkt vor meiner Nase, wenn Kinder wütend und
deprimiert sind, oder glücklich über Dinge, die außerhalb meines Horizonts
liegen. Diesbezügliche Rechte können von Lehrern nicht anerkannt
werden, nur Privilegien, die entzogen werden können und so als Faustpfand
für Wohlverhalten dienen.

5. Intellektuelle Abhängigkeit
Das fünfte Fach, das ich unterrichte, ist intellektuelle Abhängigkeit. Gute
Schüler warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen. Dies
ist die wichtigste Lektion von allen: Wir müssen auf andere Menschen [...]

Die Fortsetzung der Leseprobe gibts hier. Der obige Ausschnitt stammt von den Seiten 11-22.

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