Freitag, den 20. September 2013, veröffentlicht auf oya-online.de
Machen Sie den Test, die Antwort könnte Sie überraschen!
Vermutlich haben Sie schon mal irgendwo gehört, was Anarchisten angeblich sind und glauben. Vermutlich ist alles, was Sie gehört haben, Blödsinn. Denn viele denken, Anarchisten seien für Gewalt, Chaos und Zerstörung und gegen jede Form von Ordnung und Organisation, oder sie seien durchgeknallte Nihilisten, die alles in die Luft jagen wollen. Weit gefehlt. Anarchisten glauben schlicht, dass Menschen zu einem guten Umgang miteinander finden können, ohne dass man sie dazu zwingen müsste. Eigentlich eine ganz einfache Idee. Doch die Reichen und Mächtigen halten sie seit jeher für extrem gefährlich.
Vereinfacht ausgedrückt, beruht der Anarchismus auf zwei Grundannahmen.
Erstens: Unter gewönlichen Umständen sind Menschen so vernünftig und
anständig, wie man sie sein lässt, und sie organisieren sich selbst und
ihre Gemeinschaften, ohne dass man ihn sagen müsste, wie. Zweitens:
Macht korrumpiert. Im Anarchismus geht es vor allem darum, den Mut
aufzubringen, mit dem, was uns der Anstand gebietet, wirklich ernst zu
machen und es konsequent zu Ende zu denken. Es mag seltsam klingen, aber
in vielen entscheidenden Punkten sind Sie wahrscheinlich bereits
Anarchist, auch wenn Sie es noch nicht wissen. Beginnen wir mit ein paar
Alltagsbeispielen:
Sie stehen in der Schlange vor einem überfüllten Bus. Warten Sie, bis
Sie an der Reihe sind, und drängeln sich nicht vor, auch wenn weit und
breit kein Polizist zu sehen ist? Wenn Sie mit »Ja« geantwortet haben, verhalten Sie sich wie ein
Anarchist! Das grundlegendste anarchistische Prinzip ist
Selbstorganisation: Menschen muss nicht mit Strafverfolgung gedroht
werden, damit sie vernünftige Vereinbarungen miteinander treffen und
sich mit Würde und Respekt begegnen. Alle Menschen denken, sie seien imstande, sich vernünftig zu verhalten.
Wenn Sie denken, wir bräuchten Gesetze und Gesetzeshüter, so nur
deshalb, weil Sie nicht glauben, dass auch andere Menschen dazu imstande
seien. Aber: Denken all diese Menschen nicht genau dasselbe von Ihnen?
Anarchisten argumentieren, der Großteil des antisozialen Verhaltens, das
uns überhaupt erst denken lässt, wir bräuchten Armeen, Polizisten,
Gefängnisse und Regierungen, um unser Leben zu kontrollieren, werde
gerade durch die systematischen Ungerechtigkeiten verursacht, die durch
ebenjene Armeen, Polizisten, Gefängnisse und Regierungen erst ermöglicht
werden – ein Teufelskreis! Sind Menschen gewohnt, dass man sie
behandelt, als gälte ihre Meinung nichts, werden sie wütend und zynisch
oder gar gewalttätig – was es den Machthabenden zugegebenermaßen leicht
macht, zu behaupten, die Meinung dieser Menschen gälte nichts. Verstehen
diese Menschen jedoch, dass ihre Meinung ebensoviel gilt wie die jedes
anderen Menschen, werden sie erstaunlich einsichtig. Kurz: Anarchisten
glauben, dass es vor allem die Macht und die Auswirkungen der Macht
sind, die Menschen dumm und verantwortungslos handeln lassen.
Sind Sie Mitglied in einem Club, Sportverein oder einer anderen
freiwilligen Organisation, in der Entscheidungen nicht von oben, sondern
basisdemokratisch gefällt werden? Ja? Dann gehören Sie einer Organisation an, die nach anarchistischen
Prinzipien funktioniert! Ein weiteres anarchistisches Grundprinzip ist
die Freiwilligkeit der Verbindung. Im Grund geht es im Anarchismus
schlichtweg darum, wahrhaft demokratische Prinzipien im Alltag zu
verwirklichen – jedoch mit dem bezeichnenden Unterschied, dass
Anarchisten an eine Gesellschaft glauben, in der sich alles nach diesen
Grundsätzen organisieren lässt und in der alle Gruppen auf dem
freiwilligen Einverständnis ihrer Mitglieder gründen. Somit sind
hierarchische und militärische, durch Befehlsketten von oben nach unten
strukturierte Organisationsformen wie Armeen, Verwaltungsapparate oder
Großunternehmen nicht mehr notwendig. Vielleicht glauben Sie nicht, dass
so eine Welt möglich sei. Aber: Jedesmal, wenn Sie durch Konsens
anstatt durch Drohung zu einer Vereinbarung gelangen, jedesmal, wenn Sie
eine freiwillige Abmachung mit jemandem treffen, sich einigen oder
einen Kompromiss finden, indem Sie sich die Umstände oder Bedürfnisse
der anderen Person bewusstmachen, sind Sie ein Anarchist – auch, wenn
Sie es noch nicht wissen. Anarchismus ist das, was Menschen tun, wenn man sie tun lässt, was sie
tun möchten, und wenn sie mit gleichermaßen freien Menschen
interagieren, die sich der gegenseitigen Verantwortung, die solche
Freiheit mit sich bringt, bewusst sind. Dies führt uns zu einem weiteren
entscheidenden Punkt: Während Menschen vernünftig und rücksichtsvoll
sein können, wenn sie anderen auf Augenhöhe begegnen, liegt es in der
Natur des Menschen, dass dies nicht mehr gilt, sobald einer Macht über
den anderen hat. Sind Menschen mit solcher Macht ausgestattet, werden
sie diese fast ausnahmslos auf die eine oder andere Art missbrauchen.
Glauben Sie, dass die meisten Politiker egoistische, selbstgefällige
Karrieristen sind, die sich nicht ums Gemeinwohl scheren? Glauben Sie,
dass unser Wirtschaftssystem idiotisch und ungerecht ist? Ja? Dann unterstützen Sie die anarchistische Kritik an der heutigen
Gesellschaft, zumindest in den Gründzügen. Anarchisten glauben, dass
Macht korrumpiert und dass jene, die ihr Leben lang nach Macht streben,
die letzten sind, denen diese Macht anvertraut werden sollte.
Anarchisten glauben, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem Menschen
eher für selbstsüchtiges und skrupelloses Verhalten belohnt als für
aufrechtes und mitfühlendes. Dies glauben die meisten Menschen. Der
Unterschied ist, dass viele glauben, man könne nichts dagegen tun, oder –
wie die Erfüllungsgehilfen der Mächtigen gebetsmühlenartig wiederholen –
alles, was man dagegen tun könnte, würde die Lage nur verschlimmern. Aber was, wenn dies gar nicht stimmt? Gibt es einen guten Grund, warum wir dies glauben sollten? Die meisten
Prognosen über eine Welt ohne Nationalstaaten oder ohne Kapitalismus
erweisen sich bei genauerer Untersuchung als grundfalsch. Unzählige
Gesellschaften haben ohne Regierungen gelebt. In vielen Teilen der Welt
leben Menschen auch heute außerhalb von Regierungskontrolle, ohne sich
deshalb gegenseitig umzubringen. Sie leben einfach ihr Leben, so wie
andere Menschen auch. Überlegt man, wie dies in einer komplexen,
urbanisierten, technisierten Gesellschaft umzusetzen wäre, stoßen wir
auf eine Reihe von Fragen, auf die wir keine Antwort haben, weil kaum
jemand danach fragt. Anarchisten meinen, genau diese Fragen sollten wir
stellen.
Glauben Sie wirklich, was Sie ihren Kindern erzählen (oder was Ihre Eltern Ihnen erzählt haben)? »Es geht nicht darum, wer angefangen hat«, »Ein Unrecht hebt das andere
nicht auf«, »Räum’ deine Sachen selber weg«, »Was du nicht willst, das
man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu«, »Sei nicht gemein zu
Menschen, nur weil sie anders sind«. Vielleicht sollten wir uns mal
entscheiden, ob wir unsere Kinder anlügen wollen, wenn wir ihnen
erzählen, was richtig und falsch ist, oder ob wir bereit sind, unsere
Aufforderungen selber ernstzunehmen. Denn macht man wirklich ernst mit
diesen moralischen Prinzipien, landet man ganz schnell beim Anarchismus. Etwa das Prinzip »Ein Unrecht hebt das andere nicht auf«: Wirklich
ernstgenommen, würde es fast allen Kriegen und Strafverfolgungssystemen
jegliche Grundlage entziehen. Dasselbe gilt fürs Teilen: Immerzu
erzählen wir Kindern, sie müssten lernen, zu teilen, auf die Bedürfnisse
anderer Rücksicht zu nehmen und sich gegenseitig zu unterstützen; und
dann gehen wir raus in die Welt mit der Erwartung, alle Menschen seien
von Natur aus egoistisch und stünden miteinander im Wettkampf. Ein
Anarchist würde hier bemerken: Was wir unseren Kindern erzählen, stimmt.
Praktisch jede große Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte, jede
Entdeckung, alles, was unser Leben zu einem guten Leben macht, basiert
auf Kooperation und gegenseitiger Hilfe. Die meisten Menschen geben
bereits heute mehr Geld für Freunde und Verwandte aus als für sich
selbst. Höchstwahrscheinlich wird es immer Individuen geben, die denken,
sie befänden sich mit ihren Mitmenschen im Konkurrenzkampf. Es gibt
jedoch keinen Grund, warum eine Gesellschaft zu solchem Verhalten
ermutigen oder gar Menschen dazu anstacheln sollte, miteinander um
Grundbedürfnisse zu kämpfen.
Glauben Sie, dass Menschen im Grund ihres Wesens korrupt und böse sind
oder dass bestimmte Gruppen (Frauen, »People of Color«,
Durchschnittsmenschen, die weder reich noch gebildet sind) minderwertig
sind und von Höherstehenden regiert werden sollten? Wenn Ihre Antwort »Ja« lautet, sind Sie wohl doch kein Anarchist. Wenn
sie aber »Nein« lautet, dann stimmen Sie mit neunzig Prozent der
anarchistischen Prinzipien überein und leben vermutlich auch danach.
Jedesmal, wenn Sie andere Menschen rücksichtsvoll und respektvoll
behandeln, sind Sie ein Anarchist. Jedesmal, wenn Sie Differenzen mit
anderen auflösen, indem Sie einen guten Kompromiss finden oder indem Sie
alle anhören, anstatt eine einzelne Person entscheiden zu lassen, sind
Sie ein Anarchist. Jedesmal, wenn Sie Gelegenheit hätten, jemanden zu
etwas zu zwingen, und sich stattdessen entscheiden, mit Vernunft und
Gerechtigkeit an die Person zu appellieren, sind Sie ein Anarchist.
Ebenso jedesmal, wenn Sie mit Freunden teilen, wenn Sie gemeinsam
entscheiden, wer den Abwasch macht, oder sich fair verhalten.
Sie mögen nun einwenden, all dies sei schön und gut, um in kleinen
Gruppen miteinander auszukommen; die Verwaltung einer Stadt oder eines
Landes sei jedoch eine ganz andere Geschichte. Da haben Sie nicht ganz
unrecht. Selbst wenn man die Gesellschaft dezentralisierte und so viel
Macht wie möglich in die Hände kleiner Gemeinschaften legte, gebe es
Dinge, die auf übergeordneter Ebene koordiniert werden müssten: von
Fahrplänen bis hin zu richtungsweisenden Entscheidungen über die
Forschungsziele der Medizin. Aber nur, weil etwas kompliziert ist, heißt
es nicht, dass es nicht auf der Grundlage gemeinsamer Entscheidung
getan werden könnte.
Anarchisten haben verschiedenste Ideen und Visionen zur
Selbstverwaltung einer komplexen Gesellschaft entwickelt, die jedoch den
Umfang dieses Texts sprengen würden. Begnügen wir uns mit zwei
Hinweisen: Erstens haben viele Menschen viel Zeit darauf verwendet,
Modelle für eine wirklich demokratische, gesunde Gesellschaft zu
entwickeln, und zweitens behauptet kein Anarchist, im Besitz einer
perfekten Blaupause zu sein. Das letzte, was wir wollen, ist, der
Gesellschaft vorgefertigte Schablonen aufzuzwängen. In Wahrheit sind wir
uns wohl nicht mal eines Bruchteils der Probleme bewusst, die uns auf
dem Weg in eine Gesellschaft, in der Entscheidungen von den Bürgerinnen
und Bürgern gemeinsam getroffen werden, begegnen werden. Trotzdem sind
wir zuversichtlich, dass die menschliche Findigkeit alle diese Probleme
lösen können wird, solange wir nur unseren Grundprinzipien treu bleiben,
die bei abschließender Analyse nichts anderes als die Prinzipien von
Anstand und Menschlichkeit sind.
Leicht bearbeitete und gekürzte Übersetzung aus dem Englischen.
David Graeber (52), US-amerikanischer Ethnologe
und Aktivist, bezeichnet sich seit vier Jahrzehnten als Anarchist.
Ausgiebige Feldforschung in Madagaskar schlug sich in einer Promotion an
der University of Chicago über Magie, Sklaverei und Gewalt nieder.
Graeber war entscheidend an der Gründung der aus der Protestaktion
»Occupy Wall Street« hervorgegangenen Occupy-Bewegung beteiligt – die
Wochenzeitung »Die Zeit« bezeichnete ihn als deren »intellektuellen
Superstar«. Er lehrt Ethnologie am Goldsmiths College der University of
London und ist Professor an der renommierten London School of Economics.
Seine Bücher verbinden scharfe Analyse mit süffisantem Stil und
leidenschaftlicher Argumentation; darin erinnern sie an Horst Stowassers
Standardwerk »Anarchie!«. 2008 erschien im Peter Hammer Verlag »Frei
von Herrschaft«, im vergangenen Jahr bei Campus »Schulden« sowie »Inside
Occupy« und soeben in der Edition Nautilus »Direkte Aktion« sowie bei
Random House »The Democracy Project«. Graeber ist Mitglied der
weltweiten Gewerkschaftsorganisation »Industrial Workers of the World«
und wurde neben Vandana Shiva, Noam Chomsky und anderen in den
Interimsausschuss der 2012 begründeten Nichtregierungsorganisation
»International Organization for a Participatory Society« berufen.
www.twitter.com/davidgraeber
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