Donnerstag, den 19. September 2013, veröffentlicht auf Forum Online
Heute werden Schwangerschaft und Geburt weniger als natürliche denn
als risikoreiche Ereignisse wahrgenommen; geburtsmedizinische
Interventionen sind zur Regel geworden. Diese Entwicklung wird aus
geburtshilflicher Sicht kritisch bewertet. Rockenschaub plädiert für
eine intensive Geburtsvorbereitung, die das Selbstbewusstsein der Frauen
stärkt und für eine Rückbesinnung auf einfühlsame „Hebammenkunst".
FORUM: Herr Professor Rockenschaub, Sie
haben einen großen Überblick über fast 60 Jahre Geburtshilfe. Wo sehen
Sie große positive Entwicklungen und positive Veränderungen in den
letzten fünfzig Jahren, wo Fehlentwicklungen?
Rockenschaub: Die positive Entwicklung war der
soziale und hygienische Fortschritt. Synchron mit diesem und der
Verbesserung der sozialhygienischen Verhältnisse sind sowohl
Müttersterblichkeit als auch Säuglingssterblichkeit drastisch
zurückgegangen.
Wenn jedoch heutzutage, wie sich jüngst herausstellte, an die 93 %
der Gebärenden geburtsmedizinische Prozeduren über sich ergehen lassen
(müssen), die zu gut 22 % in einer Kaiserschnittentbindung enden und
hierdurch immense Kosten für das Gesundheitssystem entstehen, dann halte
ich das für eine extreme Fehlentwicklung, der dringend
gesundheitspolitisch gegengesteuert werden sollte.
FORUM: Das Positive wäre mehr ein sozialpolitischer als ein medizinischer Erfolg?
Rockenschaub: Ohne Zweifel! Und wo es um einen
medizinischen Beitrag ging, waren es Entdeckungen in der Biologie,
Pathologie, Bakteriologie und Biochemie. So wurden in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts die Grundlagen für die Bluttransfusion und
Antibiotikatherapie geschaffen und deren Anwendung im Zweiten Weltkrieg
im Besonderen forciert. Damit waren in der Geburtshilfe die zwei
schlimmsten tödlichen Komplikationen, Kindbettfieber und Verblutung,
weitgehend gebannt.
FORUM: Welche weiteren Fortschritte sehen Sie?
Rockenschaub: Ein weiterer Fortschritt, der aber
bei Weitem nicht mehr so ins Gewicht fiel wie die Vorteile dank der
Bluttransfusion und Antibiotikabehandlung, war die Rhesusprophylaxe.
Diese Fortschritte sind jedoch, insbesondere in der Geburtshilfe, nur
die eine Seite der Medaille. Ein gravierender Nachteil ergab sich
alsbald dadurch, dass - da mit dem Fortschritt auch die
Entbindungsoperationen viel weniger gefährlich wurden - in der
Geburtsmedizin nur umso leichtfertiger zum Messer gegriffen wurde. Man
huldigte jetzt auch nur umso mehr dem alten Motto: „Die kann das nicht,
das machen wir!"
So schürt man denn bei den Frauen die Angst, bei der Geburt
könnte dem Kind ein Übel, dem mit einer Entbindungsoperation vorzubeugen
wäre, widerfahren. Zu diesem Zweck führte man die Mutterpasskontrollen
ein. Man schaut dabei den Harn an, misst den Blutdruck und kontrolliert
das Gewicht, lauter Maßnahmen, die andernorts in der Medizin jeder
Patient selbst zu erledigen angehalten wird. Die Frauen könnten es
natürlich genauso gut, aber sie trauen es sich nicht zu, da ihnen
ständig zu verstehen gegeben wird, sie verstünden es nicht.
Was im Übrigen bei den unzähligen ärztlichen Mutterpasskontrollen
über das übliche Schema hinausgeht, ist meist überflüssig und erledigt
gegebenenfalls eine Hebamme genauso gut.
FORUM: Wie werten Sie die vaginale Untersuchung und den Ultraschall in der Vorsorge?
Rockenschaub: Ich weiß nicht, warum
ununterbrochen vaginal untersucht wird. Zumindest wer die äußere
Untersuchungstechnik beherrscht, bedarf nur ausnahmsweise einmal einer
vaginalen oder Ultraschalluntersuchung. Bei den routinemäßigen vaginalen
Untersuchungen geht es meines Erachtens um die Demonstration eines
Machtverhältnisses, dass nämlich die Frau diesen intimen Eingriff selbst
auch dann zu dulden hat, wenn er rein willkürlich und nach Gutdünken
erfolgt.
Was den Ultraschall betrifft, gibt es eine schon ältere
norwegische Studie, die ergeben hat, dass mit Ultraschall beschickte
Kinder vermehrt Lesestörungen haben. Auch bei uns soll fast ein Fünftel
der Jugendlichen Schwierigkeiten beim Lesen haben. Angehörige der ersten
Generation im Gefolge der geburtsmedizinischen Ultraschallroutine?
Immerhin werden bei diesen Untersuchungen auf die sich entwickelnden
Hirnzellen Druckwellen losgelassen, die so stark sein müssen, dass die
zurückgeworfenen Wellen in ein Bild umgewandelt werden können.
Es wäre übrigens nicht das erste Mal, dass man in der
Geburtsmedizin Schädigungen durch routinemäßig angewendete Eingriffe
erst nach Jahrzehnten anfängt zu bemerken. Zwei Physiker in Hamburg
haben die Aussagekraft medizinischer Arbeiten nachgeprüft und haben
gefunden, dass vier Fünftel der medizinischen Forschungsarbeiten, da
unexakt und fehlerhaft, nicht verwertbar sind. Für die Geburtsmedizin
trifft dies meines Erachtens in noch höherem Maße zu.
FORUM: Sie sagen, eine Geburt
braucht eigentlich nicht weh zu tun. Dennoch empfinden Frauen Schmerzen
und das Gefühl der maximalen Dehnung. Warum?
Rockenschaub: Wo immer im Körper etwas
Ungewöhnliches vor sich geht, dort entsteht ein Warnsignal, und zwar in
Form von Schmerz, der mehr oder weniger stark empfunden wird. Wer zum
Beispiel bei Überbelastung seiner Gelenke in diesen keinen Schmerz
empfindet und diese daher weiter über Gebühr belastet, hat im Nu eine
Arthrose. Wer Muskelarbeit leistet, bis er nicht mehr kann, dem tut
jeder Handgriff weh. Die Geburt ist ein ungewöhnliches Ereignis und eine
schwere Arbeit. Sie geht nicht ohne Warnzeichen vor sich. Wie weit
diese dann als Schmerz empfunden werden, ist wie bei allen
Herausforderungen eine Frage der Grundeinstellung.
Ein weiteres sinnvolles Warnsignal stellt die Angst dar. Wer
keine und vor nichts Angst hat, landet irgendwo im Gewahrsam, auf einer
Notfallstation, eventuell sogar im Grab. Angst und Schmerz gehören
insofern zusammen, als sie sich im Idealfall irgendwie ergänzen. Normale
Angst macht vorsichtig und wachsam und daher abwehrfähig, auch in Bezug
auf Schmerz. Abnorme Angst dagegen macht jede Kleinigkeit, so auch die
geringsten Schmerzen, zum Problem. Anpassung und Abwehr von Belastung,
Angst und Schmerz werden in subtiler Weise hormonell gesteuert.
In der Geburtshilfe können wir beide Extreme erleben. Da rutscht
der einen irgendwo ihr Kind heraus, weil sie nichts bekümmert, bei der
anderen geht die Geburt vor lauter Angst und Schmerz nicht weiter.
Die Geburt ist eine mühevolle Arbeit, die aber durchwegs gut
vonstatten geht, wenn es gelingt, der Gebärenden den Vorgang der Geburt,
vor allem wie einfach alles von der Natur konzipiert ist, klar zu
machen. Mit anderen Worten, Geburtshilfe ist ein Lehrproblem, ein
Problem der Didaktik. Es geht vor allem darum, der Schwangeren und
Gebärenden alles, was ihr und nur ihr jetzt widerfährt und widerfahren
kann und was sie und nur sie dazu tun soll und kann, so einfach zu
erklären, dass es ihr selbstverständlich wird. Wenn dies gelingt, ist
auch das Schmerzproblem gelöst.
FORUM: Sie sehen die Geburt also auch als ein didaktisches Problem?
Rockenschaub: Natürlich! Man muss die Frau an
die Geburt heranführen, und zwar so, dass sie jede falsche Angst ablegt.
Dazu gehört aber, dass man die Vorgänge der Geburt entsprechend
darzustellen weiß. So werden bei den Vorbereitungen zur Geburt die
Gebärenden kaum einmal mit den räumlichen (geometrischen) Verhältnissen
ausreichend vertraut gemacht. So ist meist nicht bekannt, dass die
Gebärmutter am Ende der Schwangerschaft praktisch einem Ellipsoid (Ei)
mit Durchmessern von 22/18/24 cm vergleichbar ist. Engt sich dieses
rundum um nur 2 bis 3 mm ein, verschieben sich rund 700ml Inhalt nach
unten, das heißt, der Kopf des Kindes steht dann bereits am
Beckenausgang; und der Kopf hat im Becken reichlich Platz, da dessen
Inhalt gut 1000 ml beträgt. Der Geburtsweg ist nicht mehr als 10 cm
lang. Der Kopf legt diesen Weg zu einem Drittel dadurch zurück, indem er
sich stark beugt (Hinterhauptshaltung) oder gegebenenfalls einmal auch
streckt (Gesichtshaltung), und zu einem weiteren Drittel, indem beim
Herausdrücken des Kindes der Beckengürtel von der Mutter über den Kopf
entsprechend hochgezogen wird - einfache Rechenbeispiele, und die ganze
Angst vor „zu eng gebaut" ist weg.
FORUM: Wenn die Geburt also auch ein didaktisches Problem ist, was wird denn falsch vermittelt?
Rockenschaub: Vieles. Vielleicht fange ich mit
einer kleinen Geschichte an: Eines Tages saß ich in meinem Büro und
hörte laute Schreie vom Kreißsaal her. Als ich nachschaute, hockte da
eine junge Türkin und meinte, nachdem sie wieder und nach Leibeskräften,
aber fern jeder Wehklage geschrien hatte: „Nix schreien, Kind nix
schön!"
Der Kern der Geschichte ist, dass sie mit dem Schrei das
Durchtreten des Kindes im Zaume hält. Man hocke sich einmal hin, schreie
und versuche, unten zusammenzuzwicken: das geht nicht. Die Methode der
Türkin ist zweifellos die beste für das Kind und entspricht ganz der
Evolutionsbiologie der Geburt. Ein Anstoß durch kurzes Pressen und dann
Lockerlassen ergibt den optimalen Effekt. Ich habe einmal eine
Rinderzucht betrieben und gesehen, dass dieses „Anstoß, Lockerlassen,
Anstoß, Lockerlassen" die Kühe perfekt beherrschen.
In der menschlichen Geburtshilfe heißt es immer: „Pressen,
Pressen, Pressen!" So wird denn dann auch das Kind viel zu abrupt
herausgetrieben. So verkam das „Leibhalten" der alten Hebammen zum
„Dammschutz" und, da dieser unter den gegebenen Umständen nichts nützt,
zum viel geübten Dammschnitt. Der Durchtritt des kindlichen Kopfes wird
so gelehrt, dass es zu Damm- und Scheidenrissen kommen muss. So machte
man den Dammschnitt zur schier unerlässlichen Routine. Gibt man dem
Durchtritt des Kindes entsprechend Zeit, bleiben Quetschungen und Risse,
denen man mit einem Dammschnitt vorzubeugen vorgibt, meistens aus.
Denn was man in der Geburtsmedizin Damm nennt, ist gar kein Damm,
sondern plastisches Gewebe um den Beckenausgang, das die Anatomen auch
so nennen, nämlich massa perinei. Diese liegt auch nicht vor der
Scheide, sondern bildet einen Gewebekeil über der Afteröffnung, um den
Stuhl nach hinten abzuleiten. Mit Damm signalisiert man aber wie mit
Beckenkanal und Beckenboden ein Hindernis, das es zu umgehen oder zu
beseitigen gilt - so wird Angst erzeugt. Auch Kanal und Boden werden
unterbewusst mit eng und hinderlich verknüpft. Dabei ist das Becken kein
Kanal, sondern ein 5cm breiter und in sich beweglicher Knochengürtel
mit hinten und seitlich halbschildförmigen Fortsätzen. Da ist weit und
breit kein Kanal. Nach unten zu ist an diesem Gürtel ein beckenartiges
und sehr flexibles Zwerchfell mit Durchlässen für die Harnröhre, den
Enddarm und die Scheide angebracht.
FORUM: Die Sprache spielt also bei
der Bewusstseinsbildung eine große Rolle: Gürtel zum Beispiel
signalisiert Ihrer Meinung nach „mehr Spielraum"?
Rockenschaub: Sicher! Wir haben wie gesagt einen
5cm breiten Gürtel mit Durchmessern, die reichlich Platz für den
Durchtritt des Kindes lassen. Dieser Umstand kann nicht oft genug betont
werden. Denn der Hinweis auf ein enges Becken und zu eng gebaut zu
sein, ist noch immer angetan, den Frauen Angst zu machen und deren
Zustimmung für die eine oder andere Entbindungsoperation zu erreichen.
Nichtsdestoweniger sind und waren enge Becken, so beliebt sie bei den
Geburtsmedizinern sind, immer eine Seltenheit
Von 1789 bis 1817 gab es unter dem berühmten Johann Lukas Boer im
Gebärhaus in Wien 30 000 Geburten mit 0,4% Zangengeburten, 0,7 %
Extraktionen am Steiß und 0,17 % Geburten, in denen der Kopf des Kindes
perforiert und verkleinert werden musste. Es waren also nicht mehr als
1,3 % Entbindungsoperationen und trotzdem war nur ein einziges Mal ein
Zerreißen der Gebärmutter zu verzeichnen. Wären enge Becken so häufig
gewesen, wie es in den Lehrbüchern behauptet wird, hätte es als deren
Folge viel öfter zu einem Zerreißen der Gebärmutter kommen müssen.
Die Häufigkeit der engen Becken hatte aber einen ganz anderen
Hintergrund. So gut wie in keinem Lehrbuch der Geburtshilfe aus dem 18.
Jahrhundert fehlt ein eigenes Kapitel über „abgerissene Köpfe". Man zog
nämlich die Kinder heraus, noch bevor der Muttermund adäquat eröffnet
war, so dass dieser, wenn je nach Kindeslage der Kopf oder Körper
herausgezogen war, sich um den kindlichen Hals zusammenkrampfte und den
in der Gebärmutter verbliebenen Kindesteil nicht mehr losließ. Bei den
Versuchen, den zurückgebliebenen Kindesteil mit brachialer Gewalt
herauszubringen, wurde dem Kind des Öfteren der Kopf vom Körper oder
umgekehrt abgerissen. Das Alibi für die Folgen dieser barbarischen
Eingriffe fand man im - engen Becken.
Die Schimäre vom engen Becken ging so weit, dass man im 19.
Jahrhundert, um das Becken zu erweitern, den Frauen die Schamfuge, die
Symphyse durchschnitt. Die betroffenen Frauen litten, da der
Beckengürtel keinen entsprechenden Halt mehr hatte, ihr Leben lang an
groben statischen Behinderungen. Nichtsdestoweniger kam die Operation so
in Mode, dass die Haute Couture in Paris gegen Ende des Jahrhunderts
Hüte und Krawatten „à la symphyse" kreierte.
FORUM: In Ihrem Buch machen Sie die Unterscheidung zwischen Geburtshilfe und Geburtsmedizin. Warum?
Rockenschaub: Auf dem Deutschen Gynäkologenkongress 1966 in
München hat man in Analogie zur englischsprachigen Dichotomie von
Midwifery² und Obstetrics³ als Pendant der Geburtshilfe die
Geburtsmedizin eingeführt. Als Begründung wurde angeführt, dass die
Geburt als der gefährlichste Lebensabschnitt des Menschen anzusehen sei
und die Gebärende daher nicht nur einer Hilfe, sondern auch einer
entsprechenden geburtsmedizinischen Oberaufsicht bedürfe.
FORUM: Worin sehen Sie konkret die Unterschiede zwischen der Geburtshilfe und der Geburtsmedizin?
Rockenschaub: Die Geburt ist eine große Anstrengung, aber ein
natürliches Ereignis. Dieses braucht Kraft und Verständnis. Die Kraft
hat die Frau, aber ihr Wissen über den Geburtsverlauf ist nicht
unbedingt immer groß genug. Also muss man ihr helfen, diesen verstehen
zu lernen, damit sie mit ihrer Kraft besser zurechtkommt.
Die Frauen können es, man lässt sie nur nicht! Und das Handicap
ist die moderne Geburtsmedizin, die Geburt und Schwangerschaft zur
Risikoaffäre macht.
FORUM: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die auffallend gestiegenen Kaiserschnittzahlen?
Rockenschaub: Wie Ende des 19. Jahrhunderts die
Symphysiotomie, kam gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Kaiserschnitt in
Mode. In einem gewissen Sinn war dieser es schon einmal, auch wenn man
ihn noch nicht als Kaiserschnitt bezeichnete, nämlich vor 500 Jahren -
in der Inquisition. Auch damals gab man vor, das (ewige) Leben des
Kindes retten zu müssen und es aus dem Mutterleib zu schneiden - um es
zu taufen.
Der (Kaiser-)Schnitt war laut theologischer Lehrmeinung
durchzuführen, wenn es Hinweise gab, dass das Kind die Seele
auszuhauchen und so dem Teufel anheim zu fallen drohte. Die dringlichen
Indikationen waren aus dem „Hexenhammer" zu entnehmen. Wenn dabei die
Mutter auch zumeist zugrunde ging, war dies nicht weiter von Belang, als
diese ja schon getauft war und daher getrost sterben konnte. Es gab
sogar Mütter, die, sich sterbenselend fühlend, darum baten das Kind
durch Schnitt zu befreien. Das Pendant des Wunschkaiserschnitts war also
auch einmal schon aktuell.
Letztlich ist noch zu erwähnen, dass, wer anderer Meinung war,
als im Bunde mit dem Teufel galt und damit zu rechnen hatte, als Hexe
oder Hexenamme auf dem Scheiterhaufen zu landen und verbrannt zu werden.
Auch beim Kaiserschnitt von heute gibt man vor, das (irdische)
Leben des Kindes retten zu müssen und es aus dem Mutterleib zu schneiden
- um es zu reanimieren. Der Kaiserschnitt ist laut geburtsmedizinischer
Lehrmeinung durchzuführen, wenn es Hinweise gibt, dass das Kind sein
Leben auszuhauchen und einer Asphyxie[4] anheim zu
fallen droht. Die dringlichen Indikationen sind aus der
Hightech-Herzschlagrate zu entnehmen. Wenn die Müttersterblichkeit bei
einem Kaiserschnitt statistisch deutlich höher ist als bei einer Geburt,
betrachtet man dies als nicht weiter von Belang, weil heute auch beim
Kaiserschnitt nicht mehr viele sterben. So gibt es manchen Professor der
Geburtsmedizin, der den „Wunschkaiserschnitt" für einen Fortschritt
hält.
Letztlich ist noch zu erwähnen, dass der Vorstand der Deutschen
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe im Jahre 1990 verlauten
ließ: „Ferner ist zu prüfen in welchem Umfang sich das Verfügungsrecht
der Mutter über ihre eigene Person auch auf das Kind erstrecken darf."
Und dass man in den USA erst kürzlich überlegte, ob man eine Frau, die
eine Kaiserschnittentbindung abzulehnen wagte und deren Kind verstarb,
nicht des Mordes anklagen sollte.
An sich hat sich seit einem halben Jahrtausend eigentlich nicht
viel geändert. Eine wirkliche Anzeige zu einer Kaiserschnittentbindung
besteht eigentlich in kaum mehr als einer von hundert Geburten, zu 0,5 %
in einem engen Becken, 0,3 % in einem über dem Muttermund liegenden
Mutterkuchen und 0,2 % in irgendwelchen seltenen Komplikationen. Alles
darüber hinaus ist nichts anderes als Aberglaube, Scharlatanerie
und/oder Mode.
Sogar die Bezeichnung Kaiserschnitt (lat. sectio caesarea) ist
ein Schwindel, aber gut gewählt, da Kaiser- in jedweder Kombination für
die meisten das Gefühl von etwas ganz Besonderem vermittelt. Zu
Kaiserschnitt kam man durch die Verballhornung des lateinischen caesa re
(zu Deutsch: im Todesfall) zu Caesare (zu Deutsch: bei oder von
Caesar). Im Übrigen nannten die Römer ihre Kaiser nicht Caesar, sondern
Rex.
FORUM: Ein Argument für den
Kaiserschnitt sind auch die schmalen Becken der heutigen, eher
androgynen Frauen. Wie stehen Sie zu diesem Argument?
Rockenschaub: Als Kinder haben wir alle die
gleiche Form des Beckens. Der Mann behält in vergröberter Form die
Grundform bei. Bei Mädchen und Frauen ändert sich die Form zuerst in
Richtung juveniles Becken und letztlich in die eines weiblichen Beckens.
Wenn die Entwicklung im juvenilen Becken stecken bleibt, kann es bei
der Geburt unter Umständen zu Schwierigkeiten kommen. Juvenile Becken
können sich jedoch in der Schwangerschaft weiterentwickeln, so dass es
dann bei der Geburt zu den erwarteten Schwierigkeiten gar nicht mehr
kommt. So kann denn auch die erste Geburt Schwierigkeiten bereiten und
die nächste glatt vonstatten gehen. Sogar hier ist das „einmal Sectio,
immer Sectio" nicht stichhaltig.
FORUM: Als Sie Direktor der
Ignaz-Semmelweis-Klinik in Wien waren, hatten Sie eine Sectioquote von
nur 1 %. Wie haben Sie das erreicht? Wann halten Sie eine Sectio für
nötig, wann nicht?
Rockenschaub: Am Anfang war die Erkenntnis, dass
90% der wissenschaftlichen Publikationen der Geburts- und
Perinatalmedizin nicht haltbar und nötigenfalls ohne Schwierigkeit zu
widerlegen sind. Wir hielten uns daher vornehmlich an drei Grundsätze:
1. Die Geburt auf dem natürlichen Weg ist für die Mutter wesentlich weniger gefährlich als eine Kaiserschnittentbindung.
2. Die Kaiserschnittentbindung ist für das Kind hinsichtlich der
Entwicklung seines Abwehr- und Anpassungssystems ein Handicap, eventuell
sogar ein lebenslanges.
3. Keine der kindlichen Anzeigen modernen Stils zum Kaiserschnitt gehen über fiktionale Annahmen hinaus.
Die einzigen kindlichen Indikationen in fast 44 000 Geburten
waren ein paar Fälle von relativ engem Becken bei Steißlage und ein Fall
von Nabelschnurvorfall, ein bei uns insofern seltenes Ereignis, als wir
trachteten, die Fruchtblase so lang wie möglich intakt zu erhalten.
Denn Fruchtwasser und Wehen sind zwei wesentliche Momente der Umstellung
am Übergang vom Leben innerhalb zu dem außerhalb des mütterlichen
Organismus.
Im Mutterleib ist das Kind von einem 7 bis 8 mm dicken
Fruchtwassermantel umgeben, bei 38°C keinen Temperaturschwankungen
unterworfen, braucht - über den Mutterkuchen versorgt - keine Atmungs-
und Verdauungsarbeit leisten und ist auch sonst keinen besonderen
Belastungen ausgesetzt. Mit der Geburt wird dies schlagartig anders: Das
Neugeborene ist nun mit Kälte, Atmung, Ernährung und anderen
körperlicher Anstrengungen konfrontiert und muss jetzt damit selbst
fertig werden, eine immense Herausforderung.
In der Umstellung dazu spielen Wehen und Fruchtwasser eine
elementare Rolle, die Wehen als Bewegungselement, das Fruchtwasser als
Hormonkonzentrat. Kinder, die aus welchen Gründen immer nicht imstande
sind, Fruchtwasser zu schlucken und einzusaugen, haben nach der Geburt
vielfach größte Schwierigkeiten mit der Atmung und Verdauung. Diese so
wichtige „Spülung" der Atem- und Verdau-ungswege mit Fruchtwasser wird
durch die Wehentätigkeit intensiviert.
Diese hat zudem einen wesentlichen Einfluss auf die Zirkulation
der Hirnflüssigkeit. Da die kindlichen Schädelknochen noch gegeneinander
beweglich sind, wird jeder Druck von außen in das Innere des Kopfes
übertragen. So werden in der Hirnflüssigkeit und damit auch im zentralen
Hormonsystem besondere Wellenbewegungen erzeugt. Diese wirken sich vor
allem auf die Hormone des Anpassungssystems aus, deren Umstellung im
Einzelnen schon näher bekannt ist und erkennen lässt, wie sorgsam die
Natur Ereignisse wie die Geburt vorbereitet.
Alle diese wichtigen Umstellungsprozesse fallen bei einer
Kaiserschnittentbindung weitgehend, bei der so genannten elektiven
(geplanten, Anm. d. Red.) sogar zur Gänze aus. Daher haben Kinder nach
einer Kaiserschnittentbindung oft und eventuell lebenslang Probleme mit
der Anpassung. In der Beachtung all dieser Umstände liegt die Erklärung,
warum sowohl die Mütter- als auch Säuglingssterblichkeit der
Semmelweisklinik so signifikant unter dem Wiener Durchschnitt lag.
FORUM: In den letzten zwanzig
Jahren ist die Zahl der Kaiserschnitte von 11 auf etwa 25 % gestiegen,
in einigen Kliniken ist die Zahl noch größer. Der Kaiserschnitt wird oft
als schonende Geburtsmethode für Mutter und Kind vermittelt. Wie ist
die Studienlage über etwaige Spätfolgen?
Rockenschaub: In den Achtzigerjahren erschien
eine Reihe von Studien über die Säuglingssterblichkeit aus
soziologischer und demographischer Sicht, eine auch aus der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der Tenor dieser Studien
ergab einen überraschenden Zusammenhang, nämlich: Die
Säuglingssterblichkeit verhält sich direkt proportional zur Ärztedichte.
Diese Ergebnisse ließen denn auch für die Spätfolgen nicht unbedingt
Erfreuliches erwarten. So gibt es bezüglich der Spätfolgen praktisch
keine aussagekräftigen Studien. Es ist allerdings bemerkenswert, dass
die bei den Kindern in einem auffallenden Maß zunehmende Neigung zu
Allergien, Diabetes und diversen anderen Anpassungsstörungen zeitlich
mit der Zunahme der Frequenz der geburtsmedizinisch manipulierten
Geburten im Allgemeinen und der Kaiserschnittentbindungen im Besonderen
zusammenfällt. Beginnt die Misere, die man so betont nur mit
Umwelteinflüssen in Zusammenhang bringt, eventuell schon bei der Geburt?
Vielleicht mag dazu noch eine Anmerkung zur heute üblichen
Kaiserschnitttechnik interessant sein. Operiert man chirurgisch
einwandfrei und durchtrennt die Gebärmutterwand bis zum Ansatz der
Blutgefäße scharf, um so die größte, also fürs Kind beste Länge des
Schnittes zu erreichen, resultiert ein Schnitt von höchstens 13cm. Damit
ergibt sich eine Öffnung mit einem Durchmesser von höchstens 8,5cm,
also um einen cm weniger als der im Durchschnitt kleinste Durchmesser
des kindlichen Kopfes. Die meisten Operateure machen aber nur einen
Schnitt von 7 bis 8cm und dehnen diesen mit den Fingern weiter aus, was
natürlich nie 13cm ergibt. Durch diesen Spalt wird nun der Kopf mehr
oder weniger herausgehebelt. Von schonend kann dabei wohl keine Rede
sein.
Zöge man nämlich bei einer Geburt das Kind bei einem Muttermund
von Handtellergröße, also nicht völlig, aber einem Kaiserschnitt
entsprechend weit eröffneten Muttermund heraus, würde man zu Recht eines
Kunstfehlers bezichtigt. Beim Kaiserschnitt hingegen macht das
geburts-medizinische Establishment das Pendant des Kunstfehlers zur
Rettungsaktion.
All dem nachzugehen wäre nicht nur mühsam, sondern für die
Verantwortlichen wohl auch nicht opportun. Also lässt man die Spätfolgen
nach Möglichkeit links liegen.
FORUM: Noch einmal: Welche Gründe sprechen für einen Kaiserschnitt, wann erkennen Sie eine Indikation zum Kaiserschnitt an?
Rockenschaub: Bei der Mutter besteht ein Grund
für eine Kaiserschnittentbindung, wenn für sie eine sonst nicht zu
beseitigende Gefahr gegeben ist. Zu bedenken ist dabei, dass der
Kaiserschnitt an sich auch als ernste Gefahr zu werten ist. Mütterliche
Indikationen bringen vielfach kindliche mit sich. Diese spielen aber
insofern keine Rolle, als ja die mütterliche schon gegeben ist. So kann
zum Beispiel ein Missverhältnis zwischen Kopf und Becken für die Mutter
durch ein Zerreißen der Gebärmutterwand, für das Kind durch
Kopfverletzungen gefährlich werden.
Die rein kindlichen Indikationen zum Kaiserschnitt sind jedoch
nichts denn Fiktionen, die Ankündigungen kindlicher Fährnisse Orakel.
Hält ein Kind eine Kaiserschnittentbindung aus, hält es eine normale
Geburt erst recht aus.
Im Grunde geht es um Folgendes: Man kündigt ein kindliches Risiko
an und belegt dieses mit apparativen Dokumentationen, die an sich zwar
nicht viel auszusagen imstande sind, aber so einigermaßen erkennen
lassen, ob es dem Kind gut geht. Dann entbindet man das Kind bequem per
Kaiserschnitt, der für das Kind keineswegs so harmlos ist, wie man die
Laien glauben macht. Erweist sich das Kind, wie aus objektiver Sicht
nicht anders zu erwarten, durch die Kaiserschnittentbindung entsprechend
mitgenommen, stellt man es als Beweis für das angekündigte Risiko und
die Operation als rettenden Eingriff dar. Jedoch wirklich haltbare
kindliche Diagnosen und Indikationen vermag die moderne Geburtsmedizin
nicht zu bieten.
FORUM: Ist da zum Beispiel der Ultraschall nicht eindeutig?
Rockenschaub: Ganz im Gegenteil. Ultraschall
erscheint zwar den Laien imposant, da durch ihn alles sichtbar gemacht
werden kann. Aber nicht alles, was man sieht, muss richtig sein. Das
Ultraschallgerät mag jenen, denen die klinischen Methoden nicht mehr
geläufig sind, unentbehrlich scheinen. Jedoch wissen wir noch bei weitem
nicht, ob man damit eventuell nicht mehr Schaden stiftet als Nutzen
bringen kann. Auch mit dem Ultraschall wird in der Geburtsmedizin viel
Unfug getrieben.
FORUM: In welche Richtung sollte Ihrer Meinung nach die Entwicklung gehen?
[...]
Den Rest des Artikels könnt ihr hier nachlesen.
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