Auf der Straße nach Nirgendwo

Mittwoch, den 10. Juli 2013, Auszug aus einer Rede von Tahca Ushte (Lame Deer)

     „ICH BIN EIN MEDIZINMANN – ein wicasa wakan. Medizinmann das ist ein Wort, das die Weißen erfunden haben. 

     Ich wünschte, es gäbe ein besseres Wort, um auszudrücken, was „Medizinmann” für uns bedeutet aber ich finde keines und du auch nicht, und so müssen wir uns wohl damit zufrieden geben. Ein wicasa wakan muss viel und oft mit sich allein sein. Er will weg von der Menge, weg von den kleinen, alltäglichen Dingen. Er liebt es zu meditieren, sich an einen Baum oder an einen Felsen zu lehnen und zu fühlen, wie sich die Erde unter ihm bewegt, und wie über ihm das Gewicht des weiten flammenden Himmels lastet. Auf diese Weise lernt er, zu verstehen. Er schließt die Augen, und er beginnt, klarer zu sehen. Was du mit geschlossenen Augen siehst, das zählt. Der wicasa wakan liebt die Stille, er hüllt sich in sie ein, wie in eine Decke – eine Stille, die nicht schweigt, die ihn mit ihrer donnergleichen Stimme vieles lehrt. Solch ein Mann liebt es, an einem Ort zu sein, wo er nur das Summen der Insekten hört. Er sitzt, das Gesicht gegen Westen, und bittet um Beistand. Er redet mit den Pflanzen, und sie antworten ihm. Er lauscht den Stimmen de wama kaskan – der Tiere. Er wird einer von ihnen. Von allen Lebewesen fließt etwas in ihn ein, und auch von ihm strömt etwas aus. Ich weiß nicht, was und wie, aber es ist so. Ich habe es erlebt. Ein Medizinmann muss der Erde angehören, muss die Natur lesen können wie ein weißer Mann ein Buch.

     ALLES, WAS IHR ESST, wird in eine Plastikhülle gepackt, ist sauber zerteilt und vorbereitet für die Pfanne hat keinen Geschmack, und erweckt in euch keine Schuldgefühle. Wenn ihr eure Pelz- oder Ledermäntel tragt, wollt ihr nicht daran erinnert werden, wie viel Blut und Schmerz sie gekostet haben. Wenn wir einen Büffel töteten, dann wussten wir, was wir taten. Wir baten seinen Geist um Vergebung, und wir sagten ihm warum wir es tun mussten. Wir ehrten mit einem Gebet die Gebeine derer, die uns ihr Fleisch als Nahrung gaben, wir beteten, dass sie wiederkommen sollten, wir beteten für das Leben unserer Brüder, des Büffelvolkes, genauso wie für unser eigenes Volk. Für uns ist alles Leben heilig. Der Staat Dakota hat eigene Beamte für die Schädlingsbekämpfung. Sie setzen sich in ein Flugzeug, und erschießen die Kojoten von der Luft aus. Sie führen Buch darüber, jeder tote Kojote wird in ihr Notizheft eingetragen. Die Vieh- und Schafzüchter bezahlen sie dafür. Kojoten ernähren sich von Nagetieren, von Feldmäusen und anderem kleinem Getier. Gelegentlich fressen sie ein Schaf, das sich verlaufen hat. Sie sind die natürlichen Abfallverwerter, sie säubern das Land von allem, was faulig ist und stinkt. Wer sich die Mühe macht, und sie zähmt, für den sind sie gute Spielgefährten. Doch wenn sie am Leben bleiben, haben einige Leute Angst, ein paar Cent zu verlieren – und deshalb tötet man sie vom Flugzeug aus. 

     Die Kojoten waren in diesem Land, bevor die Schafe hierher kamen, aber sie sind euch im Weg, denn ihr könnt aus ihnen keinen Profit schlagen. Mehr und mehr Tiere sterben aus. Die Tiere, die der Große Geist in dieses Land gesetzt hat, müssen fort. Nur die Haustiere, nur die vom Menschen gezüchteten Tiere dürfen leben – zumindest so lange, bis man sie in den Schlachthof treibt. Dieser entsetzliche Hochmut des weißen Menschen, der sich anmaßt, mehr als Gott zu sein, mehr als die Natur! Der Weiße sagt: „Ich lasse dieses Tier leben, denn es bringt mir Geld“; und er sagt: „Jenes Tier muss sterben, ich kann an ihm nichts verdienen, den Platz, den es braucht, kann ich besser verwenden. Nur ein toter Kojote ist ein guter Kojote“. Die Weißen behandeln die Kojoten fast so schlimm, wie sie einst uns Indianer behandelt haben.

     ICH HABE DEN EINDRUCK, die weißen Menschen fürchten sich so sehr vor der Welt, die sie selbst geschaffen haben, dass sie diese nicht mehr sehen, fühlen, riechen oder hören wollen. Regen und Schnee auf dem Gesicht zu spüren, von einem eisigen Wind wie erstarrt zu sein und an einem rauchenden Feuer wieder aufzutauen, aus einer heißen Schwitzhütte zu kommen und in einen kalten Fluss zu tauchen – diese Erfahrungen zeigen dir, dass du lebst. Aber ihr wollt das gar nicht mehr empfinden. Ihr wohnt in Kästen, die Sommerhitze und Winterkälte aussperren, ihr lebt in einem Körper, der seinen Geruch verloren hat, ihr hört den Lärm aus der Hi-Fi-Anlage, anstatt den Klängen der Natur zu lauschen, ihr seht den Schauspielern im Fernsehen zu, die euch Erlebnisse vorgaukeln, euch, die ihr längst verlernt habt, irgendetwas selbst zu erleben. Ihr esst Speisen, die nach nichts schmecken. Das ist euer Weg. Er ist nicht gut.

     BEVOR UNSERE WEISSEN BRÜDER KAMEN, um zivilisierte Menschen aus uns zu machen, hatten wir keine Gefängnisse. Aus diesem Grund hatten wir auch keine Verbrecher. Ohne ein Gefängnis kann es keine Verbrecher geben. Wir hatten weder Schlösser noch Schlüssel, und deshalb gab es bei uns keine Diebe. Wenn jemand so arm war, dass er kein Pferd besaß, kein Zelt oder keine Decke, so bekam er all dies geschenkt. Wir waren viel zu unzivilisiert, um großen Wert auf persönlichen Besitz zu legen. Wir strebten Besitz nur an, um ihn weitergeben zu können. Wir kannten kein Geld, und daher wurde der Wert eines Menschen nicht nach seinem Reichtum bemessen. Wir hatten keine schriftlich niedergelegten Gesetze, keine Rechtsanwälte und Politiker, daher konnten wir einander nicht betrügen. Es stand wirklich schlecht um uns, bevor die Weißen kamen, und ich kann es mir nicht erklären, wie wir ohne die grundlegenden Dinge auskommen konnten, die – wie man uns sagt – für eine zivilisierte Gesellschaft so notwendig sind. AUCH DER MENSCH BESTEHT AUS VIELERLEI. Woraus immer die Luft ist, die Erde, die Kräuter, die Steine, all das ist auch Teil unserer Körper. Wir müssen wieder lernen, wir selber zu sein, und die Vielfalt in uns zu fühlen und zu entdecken. Wakan Tanka, das Große Geheimnis, lehrt Tiere und Pflanzen, was sie tun sollen.

     In der Natur gleicht nichts dem anderen. Wie verschiedenartig sind die Vögel! Einige bauen Nester, andere nicht. Manche Tiere leben in Erdlöchern, andere in Höhlen, andere in Büschen. Wieder andere kommen überhaupt ohne Behausung aus. Sogar Tiere derselben Art – zwei Hirsche, zwei Eulen – verhalten sich unterschiedlich. Ich habe viele Pflanzen aufmerksam betrachtet. Von den Blättern einer Pflanze, die alle auf demselben Stängel wachsen, ist keines ganz wie das andere. Auf der ganzen Erde gibt es keine zwei Blätter, die einander völlig gleichen. Der Große Geist hat es so gewollt. Für alle Geschöpfe auf der Erde hat er den Lebenspfad bloß im Großen vorgezeichnet; er zeigt ihnen die Richtung und das Ziel, lässt sie aber ihren eigenen Weg dorthin finden. Er will, dass sie selbständig handeln, ihrem Wesen gemäß und ihren inneren Kräften gehorchend. Wenn nun Wakan Tanka will, dass Pflanzen, Tiere, sogar die kleinen Mäuse und Käfer, auf diese Weise leben – um wie viel mehr werden ihm Menschen, die alle dasselbe tun, ein Gräuel sein: Menschen, die zur selben Zeit aufstehen, die gleichen im Kaufhaus erstandenen Kleider anziehen und dieselbe U-Bahn benützen, die im selben Büro sitzen, die gleiche Arbeit verrichten, auf ein und dieselbe Uhr starren und – was am schlimmsten ist – deren Gedanken einander zum Verwechseln ähnlich sind. Alle Geschöpfe leben auf ein Ziel hin. Selbst eine Ameise kennt dieses Ziel – nicht mit dem Verstand, aber irgendwie kennt sie es. Nur die Menschen sind so weit gekommen, dass sie nicht mehr wissen, warum sie leben. Sie benützen ihren Verstand nicht mehr, und sie haben längst vergessen, welche geheime Botschaft ihr Körper hat, was ihnen ihre Sinne und ihre Träume sagen. Sie gebrauchen das Wissen nicht, das der Große Geist jedem von uns geschenkt hat, sie sind sich dessen nicht einmal mehr bewusst, und so stolpern sie blindlings auf der Straße dahin, die nach Nirgendwo führt – auf einer gut gepflasterten Autobahn, die sie selber ausbauen, schnurgerade und eben, damit sie umso schneller zu dem großen leeren Loch kommen, das sie am Ende erwartet, um sie zu verschlingen.“ 

Dies war ein Auszug einer höchst denkwürdigen Rede von einem Medizinmann der Dakotas namens Tahca Ushte (Lame Deer). Er wurde 1903 auf der Rosebud Reservation in Süddakota geboren und starb im Jahr 1974.

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