Freitag, den 04. Oktober 2013, geschrieben von Denk Mal
Unter der Natur stellt sich natürlich spontan erstmal jeder etwas anderes vor. Die Natur sind undurchdringliche Regenwälder, unberührte Prärien, leuchtend blaue Ozeane oder zerklüftete Gebirge. Unzählige Menschen leben in ihr, oder in ihren kläglichen Überresten, genauso wie die vielen großen und kleinen Säugetiere, Bodenlebewesen, Pflanzen und vieles weitere mehr.
Was wir uns jedoch meistens spontan unter der Natur vorstellen, ist geprägt von unseren Glaubenssätzen und Anschauungen über die Welt und die Lebewesen in ihr. Ist das Essen von Tieren beispielsweise etwas Schlechtes, ja sogar verabscheuungswürdiges? Ist nur der Verzehr von Pflanzen moralisch vertretbar und zu befürworten?
Können wir moralische Regeln der menschlichen Gesellschaft so einfach auf unsere Umwelt, die Natur, anwenden, oder besteht Leben nicht in Wirklichkeit darin, dass die einen Kreaturen andere essen? Ja, es ist doch erstmal ganz egal, ob es Bakterien sind, die
Pflanzen und Tiere zersetzen, oder Pflanzen, die sich gegenseitig
erwürgen, oder Tiere die anderen an die Kehle gehen, oder Viren,
Parasiten und Co die Tiere und Menschen befallen. Nach den Worten von
William Ralph Inge ist "die gesamte Natur eine Konjugation des Verbs
'essen'." Die Natur ist, was das betrifft, weder moralisch noch
unmoralisch, sondern definitionsgemäß amoralisch.
Ihr könnt es glauben oder nicht, aber wenn das Leben eine
Tod-freie Alternative bieten würde, hätte ich sie schon längst gewählt. Nur egal wie ich es jemals gedreht und gewendet habe, ein Ausweg war leider nicht in Sicht. Im Gegenteil, ich musste mich erstmal mit den nackten Tatsachen anfreunden, dass ein friedfertiges Leben in der Natur einfach
nicht existiert und wohl noch nie existiert hat.
Tatsächlich steht dort vielmehr der Tod durch Erfrieren, Verhungern oder Gewalt an
der Tagesordnung. Bei den meisten Tieren erreichen ca. 90% der Babys
nichtmal die Geschlechtsreife und in der Regel (es gibt natürlich
Ausnahmen) finden alte Tiere in der Wildnis keinen schönen Tod im Kreise
ihrer Angehörigen. Hühner essen beispielsweise alles was sich bewegt,
einschließlich Küken, wenn die Bruthenne mal nicht aufpasst. Und wenn
eine Henne stirbt oder von einem Raubtier gerissen wurde, stürzen sie
sich auch gleich auf die Überreste.
Natürlich gibt es ebenfalls die
"schönen" Dinge da draußen: Natur ist auch, wenn eine Bärenmutter ihre
Jungen mit ihrem Leben verteidigt, zwei Gänse mit einer auf dem Vogelzug
verletzten Gans landen, um bei ihr zu wachen, bis sie gestorben ist
oder sich erholt hat, wenn Elefanten ihre Toten betrauern (und bei
Wanderzügen an Skeletten von Angehörigen erneut trauern), oder wenn Wale
ihre Kranken zum Luftholen an die Wasseroberfläche tragen.
Natur
ist auch wenn die Pflanzengemeinschaft einem Baum mit verletzter Rinde
(der alleinstehend deswegen definitiv gestorben wäre) von den
umstehenden Pflanzen, nein Lebewesen(!!) Kohlenstoff, Phosphor, Zucker
und andere Nahrung bekommt, damit er weitere Jahre überleben kann. Natur
ist ebenfalls, wenn sich bestimmte Bäume in einem Wald opfern bzw.
auffressen lassen (dh. keine Terpene gegen Schädlinge bilden, obwohl sie
dazu in der Lage wären), damit die Schädlinge durch zuviele
Abwehrstoffe keine Resistenzen bilden (wie das in unserer industriellen
Landwirtschaft sehr oft der Fall ist) und dadurch der ganze Wald sterben
würde. Natur ist auch, wenn Pflanzen Insektengifte durch die Wurzeln
senden, um die Angreifer eines Kameraden zu töten oder abzuwehren.
Wir
können in der Natur sehen was wir wollen. Die hermaphroditischen
Schnecken paaren sich stundenlang, während Delfinmännchen sogar Weibchen
entführen und gruppenweise (manchmal stundenlang) vergewaltigen. Dabei
kann das Weibchen so schwer verletzt werden, dass es stirbt. Es gibt
vieles in der Natur, allerdings keinen eindeutigen moralischen Kodex.
Alles
isst und wird dann gegessen, auch der Mensch ist spätestens nach seinem
Tod eine Mahlzeit für Maden und Co. In der Natur gibt es keine
Hierarchien, die haben wir uns ausgedacht. Menschen sind es, die sich
teilweise selbst für wertvoller als den Rest da draußen halten, oder
darüber bestimmen, welche Kreaturen angeblich sonst noch "fühlend" und
"bewusst", dh. schützenswert sind, und welche nicht. Meistens geht es
dabei nur um Lebewesen, die dem Menschen auf spezielle Weise gleichen -
wo wir uns wiedererkennen können.
Mir kommen da die Ansichten einiger Naturvölker ein ganzes Stück ehrlicher vor. Nach denen ist
einfach alles lebendig: Steine, Flüsse, Pflanzen, Vögel.. und um ehrlich
zu sein, fühle ich mich da auch mehr dem Animismus zugehörig, als einer
anderen Einstellung.
Quallen haben nichtmal ein Gehirn, und
dennoch sehe ich nicht ein, warum sie weniger Lebewesen sein sollen, als
ein Schwein, eine Katze oder ein Hund. Sie führen komplexe Handlungen
ganz ohne eine Schaltzentrale aus, einige Arten besitzen sogar Augen und
keiner weiß so genau, wie diese funktionieren und gesteuert werden. Und
auch Pflanzen besitzen eine Art Nervensystem, genau wie Quallen, und
sie sind in der Lage alles zu tun, was man sich von bewussten Lebewesen
halt so vorstellen kann. Sie verteidigen sich, beschützen und helfen
einander, kommunizieren, rufen andere Pflanzenarten an und bitten sie
beim Aufbau einer stabilen Gemeinschaft mitzumachen, ja und manchmal
opfern sie sich eben auch zum Nutzen aller anderen (siehe z.B. das Buch
"The Lost Language of Plants").
Aber zurück zum Essen..
Es
ist für mich einfach nicht wahr, dass Fleisch und Tierprodukte per se
mehr Leid und Tod mit sich bringen, als reine Pflanzenkost. Nicht nur,
dass gerade der Monokulturanbau von Soja, Weizen, Mais und soweiter in den
allermeisten Fällen für Humusabbau, Versalzung und ein stetiges
Verschwinden von Nährstoffen im Boden sorgt und so auf lange Sicht das
Land zerstört - dieses Vorgehen gleicht auch einem großen Krieg, einer
ethnischen Säuberung, wo einheimische pflanzliche und tierische Siedler
ausradiert und zurückgedrängt werden, damit die Invasoren Jahr für Jahr
das Land übernehmen können.
Die ganzen Käfer, Larven und
sonstigen Kleinstlebewesen zählen leider nicht als Opfer, genausowenig
wie die vielen Pflanzenarten, die ständig eleminiert werden, aber immer
wieder versuchen die nackte Erde doch noch zu bedecken. Wennn Hasen und
andere kleinere Tiere regelmäßig den Erntemaschinen zum Opfer fallen
spricht auch keiner vom blutigen Essen, warum eigentlich? Und für die
meisten spielt es nichtmal eine Rolle, welch eine Artenvielfalt
vernichtet wurde und weiterhin wird, wieviele Ökosysteme zerstört werden
(mussten), damit all diese eintönigen und kargen Ackerflächen entstehen
konnten und auch weiterhin erhalten werden können. Das ist unsichtbares
Leid, unsichtbarer Tod.
Was ist bitte besser an der Zerstörung
von 98% der amerikanischen Prärie wegen Monokulturen voller einjährigem
Getreide, als an der Vernichtung von Millionen von Hektar
brasilianischem Regenwald wegen der Rinderzucht? Und selbst wenn man mit
Ackerbau mehr Nahrung erzeugen kann (wobei 2/3 der weltweiten Flächen
für einen derartigen Anbau gänzlich ungeeignet sind, aber in der
Mehrzahl für sinnvolle Weidetierhaltung), was bringt das, wenn dabei die
Welt zerstört wird?
Und ja, Getreide zu essen verbraucht weniger
Wasser, zumindest in nicht so bewässerungsintensiven Regionen (ein
knappes Pfund Weizen ca. 27 Liter), als der Verzehr von Rindfleisch aus
Getreidemast (knappes Pfund Fleisch 2700 Liter), aber was sagt das aus,
ausser das beides unsinnig ist? Ein Pfund angebauter Reis aus
Nordamerika braucht übrigens 950 - 2500 Liter Wasser, bei einem reinen
Weiderind sind es beispielsweise ca. 60 Liter pro Pfund Fleisch
(Innereien und anderes, das man auch verwerten kann, gar nicht
miteingerechnet; auch nicht berücksichtigt ist, dass viele andere Tiere
eine deutlich bessere Bilanz haben).*
Eingebettet in eine
geeignete Mischkultur würden weder Tiere
noch Pflanzen die Umwelt zerstören und mehr und öfter
Erträge abwerfen, als Monokulturen (bis zu 5 Ernten im Jahr, siehe Mark Purdey). Selbst Weidetierhaltung muss nichts
Negatives sein - sinnvoll eingesetzt können damit Naturschutzgebiete
erhalten, der Artenreichtum vermehrt oder Flächen renaturiert und
aufgewertet werden.
Fazit für mich aus solchen und anderen
Informationen ist einfach, dass ein bewusster Fleischesser durchaus
weniger Leid auf dem Gewissen haben kann, als ein "normaler"
Pflanzenkostesser, auch wenn es für viele einfacher zu sein scheint, den
Zeigefinger gegen ein Tier oder Tierprodukt auf dem Teller zu erheben,
als gegen all das versteckte Leid und den Tod. Weder die eine noch die
andere Seite ist per se besser oder schlechter und im Kreislauf der Natur ist nunmal jeder gezwungen sich zu ernähren und endet auch irgendwann selbst als Futter auf dem buchstäblichen Teller. Das einzige was für mich Sinn macht, ist so respektvoll wie möglich mit unserer Umwelt und den Lebewesen in ihr umzugehen, egal ob ich dabei von Pflanzen oder Tieren lebe.
Passt die herkömmliche Landwirtschaft mit ihren Anbaumethoden dabei eigentlich ins Konzept? Ich befürchte nicht, denn der "beste Ackerbau" - richtiges Klima, richtige Topografie und der
richtige Wechsel der Tierarten vorausgesetzt kann bestenfalls hoffen,
dass zu ersetzen, was zerstört wird. Es wird dabei nicht aufgebaut, wie
es die Natur tut, sondern nur ersetzt (im Idealfall!) und ist somit in
meinen Augen nicht zukunftsfähig (siehe Bill Mollison).
Und auch wenn ich mich wiederhole (siehe meinen Artikel "Veganismus Reloaded"), aber ein Landwirt
kann in einer einzigen stark verregneten Nacht schon ungefähr 0,1 cm
Boden verlieren, was 1,2 Tonnen verlorenem Boden auf 1000 m² entspricht.
Nach 20 Jahren wären das dann schon über 20 cm. Um diese Menge an
Erdboden neu bilden zu können, würde es fast annähernd 4000 Jahre
benötigen. Wie soll das unsere Kinder und Kindeskinder ernähren können und dafür sorgen, dass die Natur nicht noch weiter zerstört wird?
Aber wenden wir uns jetzt konstruktiveren Systemen zu. Zukunftsfähig erscheint mir nämlich beispielsweise die Permakultur, in der Lebensräume so gestaltet werden,
dass diese zeitlich unbegrenzt funktionieren (mehrjährige
Mischkulturen). Diese Systeme beinhalten, wie es uns die Natur schon vormacht, natürlich auch Tiere um
wirklich nachhaltig und aufbauend sein zu können.
In so einem Permakultur-System ist nicht nur Platz für Igel, Regenwürmer und andere wilde Bewohner, sondern auch für Hühner, Enten, Schweine und Co. Sie
alle haben da ihren Platz und ihren Sinn, z.B. als Insekten und
Schneckenvertilger, sie düngen, lockern den Boden auf oder oder.. (siehe
auch die Permakultur nach Sepp Holzer). Die eingesetzten Nutztiere können natürlich auch noch als Fleisch- und Eierlieferanten dienen, gerade wenn man sie auf eine
ökologisch sinnvolle Stückzahl beschränkt halten möchte (falls man z.B.
nur ausgewählte weibliche Tiere zukauft, um solche unerwünschten
Vermehrungen zu vermeiden, ist das Problem mit den toten Tieren
natürlich nur woandershin verschoben). In einem derartigen Lebensraum würde halt auch der Mensch ein Raubtier spielen und gewisse Tierpopulationen in Grenzen halten, so lieblos das klingen mag. Aber ich finde der Mensch ist nicht viel weniger Raubtier, nur weil er es vorzieht pflanzliche Lebewesen zu konsumieren.
Natürlich muss niemand von
Tieren leben, der sich damit nicht wohlfühlt, aber es ist nichts Verwerfliches, sondern das, was die Natur die ganze Zeit schon ohne uns
gemacht hat und auch weiterhin tun wird. Nichts und niemand in dieser Nahrungskette ist besser oder schlechter, schützenswerter oder weniger schützenswert. Am Ende sind wir alle gleich, wir alle fressen und werden irgendwann gefressen, sind ein Teil des großen nicht endenwollenden Kreislaufs...
* Lierre Keith - Ethisch Essen mit Fleisch
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