Ein kleiner Selbstversuch - Schlaflernprogramme für Babys

Dienstag, den 02. Juli 2013, Quelle: nestling.org


Es gibt eine Sache beim Thema Kindererziehung, die mir schwer zu schaffen macht und zwar, wenn Eltern ihre Babys bewusst stunden-, ja nächtelang schreien lassen, damit sie das selbstständige Ein- und Durchschlafen lernen. Das ist grausam und unmenschlich, doch der vermeintliche Erfolg sorgt dafür, dass diese radikale Methode dennoch beliebt bleibt.

Ich frage mich, ob Mütter auch so handelten, wenn sie wüssten, dass ihre Kinder dabei gar nicht das Schlafen, sondern das Schweigen lernen. Kinder, die erkennen, dass ihr Schreien bedeutungslos ist, lernen irgendwann ihre ausweglose Situation stillschweigend zu ertragen. Ihr Wille wird gebrochen, zum Teil mit irreparablen Langzeitschäden.
Warum tun wir das unseren Kindern an? [...]

Warum empfehlen so viele Menschen das Schreien lassen?

Dafür muss ich ein kleines Stück zurück in die Vergangenheit – zur Erziehungsphilosophie des Nationalsozialismus, denn diese wertschätzte „einwandfreie Ernährung und tadellose Reinlichkeit,“ ansonsten sollte ein Kind „vollkommen in Ruhe gelassen“ werden.[12] Gefühlsduseleien und Nähe waren absolut verpönt, Strenge und harte Führung gefragt. Diese lieblose Behandlung galt selbstverständlich auch nachts und so finden wir im führenden Erziehungsratgeber dieser Zeit, „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (J. Haarer) eine klare Handlungsanweisung für (laute) Nächte:

      „Jeder Säugling soll von Anfang an nachts allein sein. Nun macht ja Kindergeschrei vor Mauern und Türen nicht halt. Die Eltern müssen dann eben alle Willenskraft zusammennehmen und [...] sich die Nacht über nicht sehen lassen. Nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, dass ihm sein Schreien nichts nützt und ist still.“[13]

Es gibt zwei Dinge, die mich daran bis ins Mark erschüttern. Erstens, dass bereits Neugeborene zu einer 8-stündigen Nachtruhe und zur Isolation gezwungen wurden. Zweitens, dass sich dieses Buch auch nach 1945 unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ in fast jedem Haushalt der Bundesrepublik befand. „Die Publikation erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen“ und prägte demzufolge das Denken mehrerer Generationen (auch unserer) nachhaltig (siehe auch “Johanna Haarer“).


“Richtig gebettetes Kind” Abb. 42 in “Die deutsche Mutter und ihr erstes  Kind” (1936).
Es war jahrzehntelang gang und gäbe, Babys wie ein Stück Fleisch zu behandeln – „noch bis in die 1970er-Jahre glaubt man sogar, dass Säuglinge keinen Schmerz empfinden und operiert sie ohne Narkose“ (siehe auch „Das Bild vom Säugling wie sich der Umgang mit Babys in den letzten 50 Jahren verändert hat“). Kinder wurden zu gefühllosen, disziplinierten Untertanen abgerichtet und veranstalteten später das gleiche mit ihren eigenen Nachkommen. Was für ein Wahnsinn! Heute ist mir klar, dass aktuelle Aussagen wie „Schreien kräftigt die Lunge“, „Schreien lassen hat noch keinem geschadet“ oder „Lass dich nicht von deinem Kind tyrannisieren!“ Relikte früherer Zeit sind, die sich bis heute in die Köpfe eingebrannt haben. Deshalb ist es höchste Zeit, diesen Unsinn richtig zu stellen.


Was ist ein Schlaflernprogramm?

Schlaflernprogramme oder auch Schlaftrainings sind verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Kinder das selbstständige Ein- und Durchschlafen lehren sollen. Wenn man so will, sind Schlafprogramme eine Fortsetzung der Vorgehensweisen früherer Tage. Doch anstatt das Kind von der ersten Stunde an einfach abzuschieben, setzte man nun auf „kontrolliertes Schreien lassen“ nach Stoppuhr.

Ferber-Methode

Das Ursprungsmodell, die sogenannte Ferber-Methode, wurde von Dr. Richard Ferber, einem amerikanischen Kinderarzt, in den 80iger Jahren vorgestellt. Seine Theorie besagt, dass Kleinkinder besser schlafen, wenn sie ohne elterliche Hilfsmittel wie Stillen, Tragen o.ä. alleine wieder einschlafen.
Um diese Einschlafhilfen abzugewöhnen sieht er vor, das Kind nach einem Abendritual wach in sein Bett zu legen und das Zimmer zu verlassen. Beginnt es zu weinen, darf nicht sofort darauf reagiert werden. Ein festgelegter Zeitplan gibt den Eltern vor, wie oft und wie lange sie sich dem Kind nähern dürfen. Erlaubt sind beruhigende Worte und Streicheln. Füttern oder aus dem Bett heben ist untersagt. Die Zeitintervalle, in denen die Eltern nicht beim Kind sind, werden schrittweise verlängert (auf max. 30 Minuten), bis das Kind aufgibt und schläft. Das Programm wird an den darauf folgenden Tagen so lange fortgesetzt, bis das Kind ohne Protest von alleine ein- und durchschläft.

„Jedes Kind kann schlafen lernen“

So lautet das grandiose Versprechen des wohl bekanntesten Schlaf-Lern-Buches im deutsprachigen Raum von Kast-Zahn und Morgenroth (1995). Es greift die Ferber-Methode mit einem abgewandelten Zeitplan auf (max. 10 Minuten schreien) und versichert verunsicherten Eltern, dass ihre „Kinder mit 6 Monaten elf Stunden hintereinander schlafen können und nachts nicht mehr zu trinken brauchen.“[14] Bei solch verlockenden Äußerungen wundert es kaum, dass dieses Buch es binnen kürzester Zeit zum Bestseller schaffte.
Das irreführende an dieser Lektüre ist die Vermischung von richtigen Erkenntnissen über den Schlaf und unhaltbaren Behauptungen, z.B. dass späte & sättigende Mahlzeiten das Durchschlafen fördern. Die Theorien überzeugen, schließlich haben ein Kinderarzt und eine Dipl. Psychologin wissenschaftliche Beobachtungen zusammengetragen und der Leser bekommt durchweg das gute Gefühl vermittelt: „Sobald Ihr Kind die neue Schlafgewohnheit gelernt hat, geht es Ihnen und Ihrem Kind besser.“[15] Letzteres lässt sich kaum prüfen.
Ich bekomme allerdings ein wahnsinnig schlechtes Gefühl an den Stellen, an denen krasse Reaktionen auf das Schlafprogramm lapidar abgetan werden. Da ist z.B. Pascal, der sich mit 12 Monaten „fünfmal hintereinander den Finger in den Hals steckte und erbrach“. Laut Autoren benutze er „das Erbrechen als Mittel, um seinen Willen zu bekommen“ und so war es wichtig ihm dieses Verhalten schnell abzugewöhnen. Denn „hätte er damit Erfolg gehabt, wäre die Versuchung groß gewesen, es auch in Zukunft auf diese Weise zu versuchen.“[16] Wenn ich so etwas lese, wird mir richtig übel. Gudrun von der Ohe fast treffend zusammen: „Dieses Buch ist eine traurige Widerspiegelung unserer Gesellschaft im Umgang mit den Kindern“.[17]


Die Kehrseite der Schlaflernprogramme

Warum sollten sich Eltern gegen ein Schlaflernprogramm entscheiden, wenn ihr Kind doch innerhalb kürzester Zeit friedlich alleine schlummern kann? Ganz einfach, weil diese Methode Kindern eben nicht das Schlafen beibringt. „Kinder wachen nachts nach wie vor auf, sie machen sich nur nicht mehr bemerkbar. Resignation ist kein Durchschlafen und aus psychologischer Sicht mindestens bedenklich“ (siehe auch „Babys schreien lassen zum Durchschlafen“).

Babys schlafen nicht durch!

Kinder haben wie Erwachsene im Laufe einer Nacht mehrere Schlafzyklen, in denen sich Tief- und Traumschlafphasen (REM-Schlaf) abwechseln. Alle Menschen, ob groß oder klein, wachen also mehrmals in der Nacht auf, nur bemerken wir Erwachsenen das kaum. Kleinstkinder wachen allerdings leichter und zudem häufiger auf, denn der Leichtschlafanteil beträgt bei Babys zwischen 0-3 Monaten 45 – 50%  (bei Erwachsenen 20 –  25%) und „erst im Alter von 2-3 Jahren sinkt der hohe Anteil an REM-Schlaf auf das Niveau eines Erwachsenen.“[18]

Mit wachsender Reife sinkt der Bedarf an REM-Schlaf. Bildquelle: http://www.jameda.de/gesundheits-lexikon/schlaf/


Dieses kindliche Schlafmuster ist also naturgegeben und nicht das Ergebnis schlechter Gewohnheiten (Tragen, Stillen, o.ä.), wie Schlafratgeber uns vermitteln wollen. Es lässt sich demzufolge nicht durch Schlafprogramme beeinflussen und das geben selbst die Experten der Schlaf-Lern-Bücher zu: „Ihr Kind wird zwar nach wie vor nachts wach. Es kann nun aber ohne Ihre Hilfe wieder alleine einschlafen.“[19] Ob ein Baby das tatsächlich kann, bleibt fraglich. Fakt ist, dass es alleine wieder einschlafen muss, denn Hilfe wird es wohl keine erhalten.

Kinder müssen das Schlafen nicht lernen

Bücher wie “Jedes Kind kann schlafen lernen” vermitteln den Eindruck, dass sich Kinder unnormal verhalten, wenn sie mit 6 Monaten noch nicht durchschlafen und nachts die Anwesenheit ihrer Eltern wünschen. Das Kind müsse dann nur mit etwas Willenskraft von seinen Marotten befreit werden – es müsse das Schlafen nur lernen – und schon seien alle „Schlafprobleme“ passé.
In dem Artikel “Warum Babys nicht durchschlafen” habe ich bereits ausführlich erläutert, dass nicht unsere Kinder ein Problem haben, sondern wir Erwachsenen bzw. unsere Gesellschaft. Unsere Kinder können schlafen, sofern wir ihnen die Rahmenbedingungen zugestehen, die sie für ein gutes Einschlafgefühl brauchen. Und dazu gehört nun mal körperliche Nähe. Zum einen, weil es genau wie Essen ein Grundbedürfnis ist und zum anderen, weil es unseren Sprösslingen spürbare Sicherheit verleiht, wenn sie aufwachen.
Weinende Babys sich selbst zu überlassen ist nicht artgerecht und führt deshalb zu unerbittlichen Kämpfen. “Wenn wir fordern, dass sie alleine schlafen, dann verlangen wir etwas, was ihren grundlegensten Instinkten widerspricht.”[20] Nur unter Tränen – wenn überhaupt – erreichen sie das Ziel. Das traurige dabei  ist, dass “ihnen nicht bei etwas geholfen wird, das sie lernen wollen, weil sie dazu bereit sind: sie haben einfach keine andere Wahl.”[21]

Schweigen ist nicht immer gold

Das Schreien eines Babys verstummt, wenn seine Bedürfnisse erfüllt werden oder es aufgibt. Auf letzteres zielen Schlafprogramme ab: solange durchzuhalten bis das Kind sich seinem Schicksal beugt. Doch ist es wirklich ein Erfolg, wenn ein Kind aufhört seine Bedürfnisse zu äußern? Wenn es schweigt, anstatt seinem natürlichen Instinkt zu folgen und nach seinen Eltern zu rufen?
Ein Baby, das nach einem erfolgreichen Schlaftraining nachts alleine in seinem Zimmer erwacht, hat nach wie vor Ängste und Bedürfnisse. Möglicherweise sogar noch viel mehr als vorher. Bestenfalls wird es erneut versuchen sich bemerkbar zu machen. Vielleicht wird es ihm aber auch gelingen, seine Gefühle (zumindest nachts) nicht mehr zu äußern. Ist es das, was wir wollen?

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Den ganzen Artikel könnt ihr hier nachlesen: Schlaflernprogramme: ein Blick hinter die Schreikulisse

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