Mythos gefährliche Geburt?

Montag, den 01. September 2014, geschrieben von Denk Mal

Es scheint, als ob die Natur beim Menschen einen gewaltigen Fehler begangen hätte. Zumindest könnte man zu diesem Schluss kommen, wenn man sieht, wie es in der Geburtshilfe üblicherweise zugeht. Ja, die Tiere bekommen in der Regel ihren Nachwuchs ohne weitere Probleme, nur bei uns endet bereits jede dritte Geburt in einem Kaiserschnitt. Die allgemeine klinische Interventionsrate liegt momentan sogar bei sage und schreibe 90% und früher, ja früher, war die Geburt sogar noch gefährlicher und schmerzhafter so ganz ohne Kaiserschnitt, PDA und Co.!

Hm, halt! Irgendwas stimmt hier doch nicht. Lasst uns mal ein paar Schritte zurücktreten und folgende Frage stellen: Was sagen diese Zahlen denn ganz konkret aus? Ist wirklich die Geburt an sich ein solch gefährliches Unterfangen, oder könnte es womöglich sein, dass mit unserer Geburthilfe irgendwas nicht stimmt? Schauen wir uns dafür einmal ein paar weitere Fakten an, um ein klareres Bild zu erhalten.

Wie man im Buch "Gebären ohne Aberglaube" nachlesen kann, hat die Ignaz Semmelweis Frauenklinik in Wien (SFKW) in den Jahren von 1976-1985 bei fast 23.000 Geburten eine Kaiserschnittrate von kaum mehr mehr als einem Prozent (1,03%) vorzuweisen gehabt. Bei mehr als 42.500 Geburten an der SFKW lag die Kaiserschnittrat nur einen kleinen Tick höher, also im Bereich von 1,3%, und die der vaginalen Entbindungsoperationen bei 3,1%. Die derzeit in Wien durchschnittliche Kaiserschnittrate lag hingegen 10-mal, die der ZangenOPs mindestens dreimal so hoch.

Bemühen wir auch ruhig noch ein amerikanisches Beispiel. Auf "der Farm" im Süden des US-Staates Tennessee, in der Nähe von Summertown, hat die Hebamme Ina May Gaskin mit ihren Kolleginnen mehr als 2.200 Geburten begleitet - die meisten zuhause oder in ihrem dortigen Geburtshaus. Dabei lag die Kaiserschnittrate bis zum Jahr 2000 bei 1,4%, die Rate der Zangen- und Saugglockengeburten bei 0,05%. Die amerikanische Kaiserschnittrate lag im Jahr 2001 hingegen schon bei 24,4% und die Instrumentengeburtenrate bei ca. 10%. Das wirft doch gleich ein ganz anderes Licht auf die moderne Geburtshilfe.

"Aber halt", höre ich an dieser Stelle schon den ein oder anderen Leser schreien, "das kann doch gar nicht sein." "Immerhin ist doch die drastisch zurückgegangene Sterblichkeitsrate bei Müttern und Säuglingen ein überaus großer Verdienst der modernen Geburtshilfe." Schauen wir uns also auch diesen Punkt mal etwas näher an.

Denn tatsächlich ist es zwar so, dass der Ausbau der technisierten und medikalisierten Geburtshilfe fast zeitgleich mit dem Rückgang der Sterblichkeitsrate zusammenfiel, aber kein kausaler Zusammenhang zwischen diesen beiden Komponenten besteht. In Wahrheit sind die auf breiter Basis verbesserten hygienischen Zustände für den dramatischen Rückgang der Sterblichkeit verantwortlich gewesen. Ein Vorreiter der antiseptischen Händereinigung war dabei sogar Semmelweis, der diese Vorgehensweise im Mai 1847 in seiner Klinik einführte. Als Ergebnis ging die Müttersterblichkeit auf unglaubliche 1,9% zurück, das entspricht weniger als einem Fünftel der damaligen Rate! Ein Vierteljahrhundert später, als auch die vaginalen Untersuchungen der Gebärenden auf ein Mindestmaß reduziert wurden (eine der Hauptquellen für gefährliche Infektionen), sank die Müttersterblichkeit sogar auf 1% und pendelte sich gegen Ende der Jahrhundertwende auf ca. 0,5% ein.

Wie wir durch die oben genannten Daten gesehen haben, sind die Auswirkungen der modernen klinischen Geburtshilfe auf die Interventionsraten wohl eher noch als verheerend zu bezeichnen und am schlimmsten ist, dass dieser Umstand gut kaschiert werden konnte, indem sich die technisierte und medikalisierte Geburtshilfe mit Ergebnissen schmückt, die eigentlich auf die Verbesserung der hygienischen Standards zurückzuführen waren. Das soll natürlich nicht heißen, dass es nicht auch echte Not-Kaiserschnitte gibt, aber diese können tatsächlich auf ein absolutes Minimum reduziert werden, wie man anhand der obigen Zahlen gut erkennen kann.

Abschließen möchte ich meinen Beitrag gerne mit zwei Zitaten. Eines von Ina May Gaskin (aus "Die selbstbestimmte Geburt"): "In den Ländern mit der niedrigsten Sterblichkeitsrate von Müttern und Säuglingen begleiten Hebammen die Geburten und betreuen 80% der werdenden Mütter in der Schwangerschaftsvorsorge und Geburtsvorbereitung."

Und ein anderes von Dr. Alfred Rockenschaub:  Beim Standardkaiserschnitt wird die untere Bauchhöhle und das untere Uterinsegment eröffnet und das Kind durch diese Öffnung extrahiert. Ganz gleich nach welcher Methode das untere Uterinsegment (am Ende der Schwangerschaft) eröffnet wird, es ergibt sich ein bestenfalls 13-14 cm langer Schnitt. Dieser entspricht einem Kreisumfang von 27 cm und einem Durchmesser von 8,5 cm. Meistens wird aber der Schnitt viel kürzer angelegt und mit den Fingern stumpf erweitert. Die so erreichte Öffnung geht kaum einmal über 12 cm Länge, also 24 cm Umfang und 7,5 cm Durchmesser hinaus. Durch diesen Ring, der gewebemäßig dafür nicht vorbereitet ist, wird nun der kindliche Kopf herausbefördert: gehebelt, gepreßt, gezogen.

Mit dem Kaiserschnitt schafft man also Bedingungen, wie sie gegeben wären, gedächte man im Verlaufe einer normalen Geburt das Kind bei handtellergroßem Muttermund zu extrahieren. Niemand wird nun sagen, daß dies eine empfehlenswerte Vorgangsweise wäre. Eine Steißgeburt hält man deswegen für ein Risiko, weil der Kopf den vom Steiß nicht vollständig gedehnten Muttermund relativ schnell passieren müßte. Als Therapie empfiehlt man hier merkwürdigerweise den Kaiserschnitt, obwohl der Durchlaß, den der Kopf jetzt zu passieren hat, sicher nicht größer und das Gewebe sicher weniger dehnbar ist, als es im Bereich des Muttermundes wäre. Doch die geburtsmedizinische Logik hat ihre eigenen Gesetze.

Ein modernes Kapitel stellen die kosmetischen Kaiserschnitte dar. Die Frau sieht kaum mehr eine Narbe. Welches Risiko der (zu) kleine Schnitt für das Kind und sie bedeutet, weiß sie gewöhnlich nicht. Wer sich auskennt und gelegentlich solchen Operateuren auf die Finger schaut, wundert sich immer wieder, wie viel fürs erste die Mütter an Blutverlusten und die Kinder an Grobheiten vertragen. Er kommt unweigerlich zum Schluß: Wer solche Kaiserschnitte glimpflich übersteht, ist zweifellos auch der anstrengendesten Geburt gewachsen.
(Quelle: "Gebären ohne Aberglaube", Kapitel 'Geburtsmedizinische Standardoperationen', Dr. Alfred Rockenschaub)

Weiterführende Informationen findet ihr entweder in den bereits genannten Büchern "Die selbstbestimmte Geburt" und "Gebären ohne Aberglaube" oder hier:

www.berliner-hebammenverband.de/images/userfiles/PM_QUAG.doc
https://www.facebook.com/hausgeburtsforum










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