Sonntag, den 26. Januar 2014, von Roland R. Ropers auf epochtimes.de
Psychotherapeut Martin Miller entmystifiziert seine Mutter Alice Miller mit seinem autobiographischen Buch: „Das wahre Drama des begabten Kindes“, Untertitel: „Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“.
Er
legt ein aufrüttelndes Buch über den öffentlichen Erfolg und das
private Scheitern seiner Mutter vor. Die Kinderpsychologin Alice Miller
(1923 – 2010) setzte sich zeitlebens für geschlagene Kinder ein,
schützte ihren Sohn aber nicht vor dem gewalttätigen Vater. Dennoch will
Martin Miller, 1950 in Zürich geboren und dort als Psychotherapeut
tätig, mit seiner Mutter nicht abrechnen.
Sprachlich
differenziert und distanziert, ohne Triumph über die Tote, die sich am
14. April 2010 in Saint-Rémy-de-Provence das Leben nahm, nähert sich
Miller den Ursachen der Verstrickung von Mutter und Sohn, die zeitweise
ungeheuerliche, nahezu psychotische Dimensionen erreichte.
Im Jahr 1979 erschien im Frankfurter Suhrkamp-Verlag das sensationelle Buch „Das Drama des begabten Kindes“
der polnisch-jüdischen Psychologin Alice Miller – seither in Dutzenden
von Auflagen in mehr als 30 Sprachen erschienen – ein Weltbestseller. Das
Buch wurde für einige Jahre geradezu zum Standard einer „neuen
Weltanschauung“. In Wahrheit lebte Alice Miller als gespaltene
Persönlichkeit, die das Leben ihres Sohnes zur Projektionsfläche von
unbewusstem Hass machte. „Ich musste meine ganze Biografie auslöschen“,
hat Alice Miller ihrem erwachsenen Sohn Martin einmal gesagt. Wie in
einer Nussschale steckt die ganze „Tragödie Alice Millers“ in diesem
Satz.
Nach außen trat die Psychologin und Autorin Alice
Miller für eine einfühlsame und gewaltfreie Erziehung ein, wurde damit
zu einem Star der Pädagogik. Der eigene Sohn lernte jedoch eine ganz
andere Frau kennen. Das Buch, das er, 63-jährig, nun darüber geschrieben
hat, ist keine Anklage, sondern ein Versuch, tief sitzende Traumata zu
verstehen.
Alicija Englard wurde am 12. Januar 1923 in
Piortków Trybunalski bei Lodz geboren. Alice Miller charakterisierte
ihren Vater als einen „erfolglosen Bankier“ und ihre Mutter als eine
Hausfrau, die „einst ein rechtloses, von ihren Eltern und Brüdern
unterdrücktes Mädchen gewesen war, das mit Worten über Liebe, Moral und
Pflicht großgezogen wurde“. Ihre chassidische, orthodoxe
Familie empfand das Mädchen, eine Leseratte, als einengend. Das Kind
haderte mit einer hartherzigen Mutter, Terror und Verfolgung drängten
die Halbwüchsige jedoch in eine ungewollte Solidarität mit ihrer
jüdischen Familie.
Alice Miller geb. Englard konnte 1940
noch mit 17 Jahren das Abitur ablegen. Dann wurde sie mit ihrer gesamten
Familie ins Warschauer Ghetto eingewiesen. Es gelang ihrer Familie,
Alice aus dem Ghetto herauszuschmuggeln und sie unter falschem Namen bei
einer christlichen Familie unterzubringen. Nach Ende des Zweiten
Weltkriegs ging sie an die Universität Basel, unterbrach ihr Studium
mehrfach, u.a. wegen der Heirat mit dem katholischen polnischen
Soziologen Andreas Miller (1923 – 1999), der während seiner 24-jährigen
Professur an der Hochschule St. Gallen zeitweise auch Direktor der
Schweizerischen Zentralstelle für Hochschulwesen und Generalsekretär der
Schweizerischen Hochschulrektorenkonferenz war.
Das junge
Ehepaar Miller lebt in Zürich in sehr beengten Wohnverhältnissen. Im
April 1950 kommt der Sohn Martin zur Welt. Er lässt sich von der Mutter
nicht stillen. Das Neugeborene habe ihre Brust „verweigert“, klagt Alice
Miller später, sie habe sich abgelehnt gefühlt, vom eigenen Kind sei
sie gekränkt worden. Kurz nach der Geburt geben die Eltern,
angehende Akademiker, die intensiv mit ihren Doktorarbeiten beschäftigt
sind, den Sohn fort zu einer Bekannten, die sich auf Kinderpflege kaum
versteht. Schließlich erbarmt sich eine Tante und nimmt ihn ein halbes
Jahr zu sich. Als Martin sechs ist, wird Tochter Julika geboren, ein
Kind mit Down-Syndrom. Die entsetzte Mutter beschuldigt den Vater,
genetische Risiken in der Familie verschwiegen zu haben. Der Sohn, der
lästige „Bettnässer“, kommt jetzt in ein Heim. Dort, auf der Halbinsel
Au am Zürichsee, kaum 30 Kilometer von zu Hause entfernt, besuchen die
Eltern ihn kein einziges Mal.
Wieder zurück im Elternhaus,
erlebt der Achtjährige sich als fremd, als „Ausländer“, denn die Eltern
sprechen polnisch untereinander, das er nicht versteht. Vom Vater wird
der Junge geschlagen und zu Waschritualen gezwungen, die er als
sexualisierte Übergriffe empfindet. Bei Tisch verspottet der Vater den
Sohn. In jeder Kinderfrau, zu der der Junge Vertrauen fasst, wittert die
eifersüchtige Mutter eine Rivalin und entlässt sie. Im Alter von 17
Jahren setzt der Heranwachsende durch, dass er aufs Internat kommt.
Reglementiert und katholisch ging es da zu, doch für ihn ist es Erholung
vom elterlichen Irrenhaus.
Alice Miller hatte eine
Mission. Es ging ihr darum, die Öffentlichkeit für das Recht der Kinder
auf Empathie und gewaltfreie Erziehung zu sensibilisieren, für die
seelischen und gesellschaftlichen Schäden durch „Schwarze Pädagogik“ und
falsche Tabus in Familien. In einer frühen Sozialisation mit Empathie
und ohne Gewalt, so die Kernthese, liegt der Schlüssel für eine
friedfertige Gesellschaft. So fand sie hunderttausende
Leser, die sich in der Kindheit falsch behandelt wussten; der Titel,
„Das Drama des begabten Kindes“, ist stehende Rede geworden. Um zu
überleben, erklärte sie, erspürt das sensible, das „begabte“ Kind die
emotionalen Bedürfnisse der neurotischen Eltern und verleugnet seine
eigenen. Abgespalten wirken Trauer und Wut im Unbewussten des Kindes
fort; später wird es mit seinem Nachwuchs ähnlich verfahren.
Martin
Miller schreibt über eine andere Alice Miller. Der Sohn sucht keine
Revanche. Sein Bericht ist nüchtern, ohne Larmoyanz. Er sucht nach der
Biografie der Mutter, schildert die eigene Kindheit und Jugend, erörtert
mit der Hilfe eines Traumaexperten Fragen zur transgenerationellen
Traumatisierung. Vom Vorleben seiner Eltern, die nach dem
Zweiten Weltkrieg als polnische Stipendiaten in die Schweiz kamen, ahnte
der junge Martin Miller wenig. Auch durch den Vater, den 1999 plötzlich
verstorbenen Soziologen, in dessen katholischem Glauben er aufwuchs,
erfuhr er nicht viel. Mit aller Macht einer starken, unerlösten Psyche
projizierte Alice Miller ihren unbewusst weiterwütenden Hass auf die
eigenen Eltern und ihre Abwehr der Vergangenheit als jüdische Verfolgte
auf den Sohn.
Über seinen Vater schreibt der Sohn Martin:
„Ich erinnere mich an meinen Vater als mir gegenüber verachtenden,
cholerischen und autoritären Mann. Er hat mich, könnte man sagen, mit
Zuckerbrot und Peitsche erzogen – wie viele Kinder dieser Zeit. Ich
wurde oft verprügelt und andererseits etwa mit meinem Lieblingsessen
verwöhnt. Für mich als Kind waren seine Stimmungen unberechenbar ...“
Am
fatalsten zeigte sich die spannungsreiche Dynamik bereits, als der
junge Martin, inzwischen selber Therapeut, mit Ende 20 in eine Krise
geriet und ihn die Mutter zur Behandlung bei ihrem Guru nötigen wollte,
dem Berner „Primärtherapeuten“ Konrad Stettbacher. Der schwor darauf,
seine Opfer etwa durch tagelanges Verharren in Dunkelzellen in die
Regression zwingen zu können, um „Katharsis“ zu befördern. Verzweifelt
willigte Martin Miller 1992 in die Behandlung bei einer
Stettbacher-Schülerin ein. Die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen
wurden hinter dem Rücken des Patienten an den „Guru“ weitergeleitet, der
all das mit Mutter Miller besprach. Ultimativer Verrat.
Konrad
Stettbacher veranlasste Alice Miller sogar, die Approbation ihres
„infantilen“ Sohnes zu hintertreiben. „Es war eine Zeit der Verfolgung“,
schreibt Martin Miller, „ich bekam Drohbriefe, sie unterstellte mir
Lügen, warf mir Versagen und Schlimmeres vor.“ In dieser Hölle war der
Sohn nahe am Suizid. Seine berühmte Mutter sah ihn als „Monster“. Martin
Miller verklagte Konrad Stettbacher und erhielt Recht. Der Guru, der
auch Patientinnen sexuell missbraucht haben soll, wurde als Scharlatan
entlarvt, und Alice Miller wies den Suhrkamp-Verlag an, die Hymnen auf
den Mann aus ihren Büchern zu tilgen.
Mit dem Schisma
zwischen privatem Scheitern und öffentlichem Erfolg ist Alice Miller in
der Avantgarde der pädagogischen Reformer jedenfalls nicht allein.
Jean-Jacques Rousseau gab drei seiner Kinder im Waisenhaus ab, Maria
Montessori schickte ihren unehelichen Sohn zu Pflegeeltern, Bruno
Bettelheim, Autor der berühmten Studie „Kinder brauchen Märchen“,
prügelte Schützlinge in seiner Reformschule und trug den Spitznamen
„Benno Brutalheim“. Und die Zustände an der Odenwaldschule zu Zeiten des
pädokriminellen Gerold Becker sowie am Elite-Internat des
Benediktinerordens Kloster Ettal (man schrieb von der „Hölle von Ettal“)
u.v.m. machten erst vor drei Jahren Schlagzeilen.
Der
Berliner Traumatherapeut Oliver Schubbe (Jahrgang 1962) schreibt in
seinem bemerkenswerten Nachwort u.a.: „Jedes zweite Kriegskind wie Alice
Miller hat ein traumatisches Ereignis erlebt... Die
Nachkriegsgeneration erlebte die psychischen Kriegsfolgen an ihren
Eltern und die Auswirkungen des Krieges auf die Gesellschaft… Das
Unausgesprochene ließ die Kinder mit ihren Fragen allein...
Der
Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem eigenen Leben ist
für die Nachgenerationen nur sehr schwer zu begreifen... Aufarbeitung
ist kein gradliniger und schon gar kein schneller Prozess. Die
Rückanpassung an Friedenszeiten verläuft wie in einer Spirale über
mehrere Generationen. Doch wenn eine Alice Miller es nicht geschafft
hat, das Schweigen und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, werden
wir als Eltern, als Gesellschaft es dann jemals schaffen?“
Vor
ihrem Tod durch Suizid erhielt der Sohn einen kurzen Anruf von Alice
Miller am 14. April 2010 morgens: „Alles Gute für die Zukunft!“
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